WORT UND BILD: Bertrand Stern, 22 Juni 2024
Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin würde Ihnen mitteilen, sich für den Trockenheitsgrad von Regenwasser zu interessieren. Oder Ihr Freund die Überlebensstrategie von Fischen außerhalb des Wassers untersuchen wollen: Welche wäre Ihre Reaktion? Und was dächten Sie, jemand wolle den Freiheitsgrad der im Gefängnis Einsitzenden analysieren?
So ähnlich ergeht es mir, wenn jemand – allemal in Deutschland – die Begriffe Schule und Freiheit miteinander verbinden will: für mein Dafürhalten eine Quadratur des Kreises. Ja, gewiß hegen jene, die Schule und Freiheit aneinanderkoppeln, eine gute Absicht: vielleicht wollen sie den einen oder anderen Übelstand der Institution Schule abstellen, etwa das Fremdbestimmte, den Zwang… Dennoch: Stimmt das anzustrebende Ziel? Ist der Weg dahin der richtige? Ist das gewählte Mittel überhaupt geeignet? (Nur zur Verdeutlichung: Ist eine sog. freie Kirche etwas anderes als eine Kirche? Wer aber – weshalb auch immer – das Kirchliche ablehnt, kann deshalb die religiöse Ergriffenheit des Menschen dennoch hinnehmen. Wäre es nicht abwegig, jene Ergriffenheit, das Numinose nur wegen der jahrtausenden Zweckentfremdung und des Mißbrauchs durch Kirchen zu leugnen? Die Ähnlichkeit mit der hier aufgegriffenen Thematik ist nicht zufällig!)
Zugegebenermaßen bin ich hinsichtlich der Verwendung von Begriffen sehr pingelig: so wie rot nunmal nicht für grün und die Erde nicht für das Meer steht, so bezeichnet das Wort Schule etwas Bestimmtes, das keiner beliebigen Deutung unterworfen werden kann. Weshalb postuliere ich diese begriffliche Unvereinbarkeit? Zu dieser klaren Ansage bewegen mich insbesondere drei Aspekte:
- Was Schule ist, wird durch staatliche Schulbehörden definiert, entsprechend genehmigt (also für genehm gehalten!) oder eben untersagt. (Zur Verdeutlichung greife ich mal auf ein Beispiel aus Österreich zurück: Selbst wer auf Antrag von der Schule „in den familiären Unterricht“ entlassen wird, muß eine jährliche schulische Prüfung absolvieren, womit die staatlichen Behörden abermals ihre Macht und Gewalt dokumentieren: Auch außerhalb der „normalen Schullaufbahn“ bleiben Menschen der staatlichen Schule unterworfen. Sollten die Prüfungen nicht befriedigend ausfallen, werden sie zwangsweise in die schulische Normalität zurückgeführt. Der Widerstand gegen solch vor- und antidemokratische Gewalt und Willkür nimmt auch in Österreich zu: Wird es gelingen, ihr durch zu erstreitende höchstrichterliche Beschlüsse ein Ende zu setzen?) Außerhalb der monopolartigen Deutungshoheit kommen mir nur folgende Wort-Ausnahmen in den Sinn: Baumschule, Hundeschule, Fahrschule, Volkshochschule und Musikschule unterstehen gewiß nicht der schulbehördlichen Autorität…
- Schule? Welch seltsame Idee, einen Ort abseits des eigentlichen Lebens zu schaffen, um da die zwangsweise nach Alter eingepferchten Menschen in Klassen, nach einem festgelegten Programm, zu einem definierten Zeitpunkt, mit klaren Vorgaben zu unterrichten, zu prüfen und zu sortieren. Eine Institution für… nein: gegen sog. Kinder, die ob ihrer Minderjährigkeit verfassungswidrig zu Minderwertigen erniedrigt werden und deren „erfolgreiches Werden“ an die schulische Wohlerzogenheit gebunden wird.Zur Aufgabe der Schule, Menschen zu braven, gehorsamen Staatsbürgerinnen und -bürgern zu machen, gehört es, Neugier zu ersticken: beispielsweise durch den Vorgang des Lernens (was im Fachjargon als „Bulimie-Lernen“ bezeichnet wird, ist bloß ein Schönreden dieses Dramas!) Welcher Ort, der weitgehend unabhängig von den eigentlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten der da anwesenden Menschen vorgeht, könnte jemals gesund, lebendig, menschlich sein? Ist es nicht naheliegend, daß es die in einem solch künstlichen Gebilde aufkommenden schulspezifischen Nöte und Dramen ohne diese Schule nicht gäbe, nicht geben könnte? Wie lange wird just der Staat an dieser Schule „kleben“, sie unterhalten und sanktionieren und das im Grunde verfassungswidrige staatliche Schulmonopol aufrechterhalten? Nun, der sich hieraus ergebende Schulanwesenheitszwang wird fallen, sobald es nicht mehr um Schule an sich geht, sondern um den Menschen, um jeden Menschen: Die Tatsache, daß Menschen mit aktiven, kreativen und sozialen Kompetenzen geboren werden und mit einer beneidenswerten Neugier und Begeisterungsfähigkeit danach trachten, ja geradezu nicht umhin kommen, daß solche Energie und Dynamik sich entfaltet, mündet folgerichtig in sein Recht, selbstverständlich frei sich zu bilden.Angesichts der staatlichen Reglementierung der Institution Schule verwundert es nicht, daß es hierzulande keiner Schule gelingen kann, sich erfolgreich und dauerhaft diesem Wahn zu entziehen und zu widersetzen: Wer damit aufhören will, wird erkennen, daß in der Unvereinbarkeit von Leben und (jeder) Schule die Chance des prospektiven Wandels liegt: hin zu frei sich bilden!
- Doch eigentlich geht es gar nicht um die Schule an sich, sondern darum, was sie darstellt: Sie ist nämlich nur die instrumentelle Verkörperung einer zivilisationstypischen Ideologie, die alles Lebendige, Natürliche, Menschliche erobern, beherrschen, unterwerfen will und muß. Daher: Das Bekämpfen der Schule, welche lediglich die symbolische Stellvertretung dieser Ideologie ist, ähnelt der Absicht, das Fiebermesser zu vernichten, der mir Un(an)genehmes anzeigt. Deshalb könnte es Wichtigeres geben als das widersinnige Schattenboxen eines Kampfes für eine Schule oder gegen eine Schule: Sobald es nicht mehr um bloße Symptome geht, sondern um Menschen und um ihr Recht, frei sich zu bilden, zeigt sich, daß solche Selbstverständlichkeiten allesamt mit zivilisatorischen Ideologien und Institutionen schlicht unvereinbar sind…
Gewiß steht es mir nicht zu, die ursprüngliche gute Absicht von betroffenen Müttern und Vätern oder von beherzten Lehrerinnen und Lehrern in Abrede zu stellen: Wieviel Herzblut haben sie „investiert“, um eine Schule zu konzipieren, zu gründen, zu leiten, aufrechtzuerhalten. Bekanntlich ist allerdings Wohlmeinen nicht automatisch auch Wohltun!
Das Hoffen auf eine „freie Schule“ ruft nach der Klärung, wofür diese Freiheit stehen könnte. Da in Deutschland keine Schule „frei“ von Genehmigung und staatlicher Aufsicht sein kann, läßt sich kein von einer Schule gehegter Anspruch verwirklichen, unabhängig von der staatlichen Definitionsmacht zu sein.
Worauf beschränkt sich die Freiheit dann? Auf die Gestaltung des Unterrichts? Auf die parlamentarische Organisation? Auf die Verankerung eines Justizwesens? Recht und gut, allein: Was geschieht, ein seine Freiheit beanspruchender junger Mensch verweigert sich selbst dieser ach wie freien Schule, weil er womöglich andere Wege vorzieht, um seine Neugier zu befriedigen, um seine Kompetenzen zur Entfaltung zu bringen oder seine sozialen Kontakte zu pflegen? Vielleicht ist er eher ein Nachttyp, der problemlos von Nachmittags bis spät in die Nacht dies und jenes entdeckt und praktiziert? An welcher deutschen Schule soll dies möglich sein?
Für mich, der ich just in dieser sensiblen Angelegenheit sehr vorsichtig mit Begriffen umzugehen pflege, ist nicht erheblich, ob eine Schule frei ist; einzig wesentlich, wesenhaft, ist, ob der Mensch frei ist: Freiheit kann sich nur auf das Subjekt beziehen, dessen Selbstbestimmtheit und Würde es unbedingt und bedingungslos zu respektieren gilt. Etwa dessen ernstzunehmendes Vermögen und Bedürfnis, frei sich zu bilden.
Dies möchte ich an folgenden unterschiedlichen Situationen verdeutlichen:
- Einen jungen Menschen zieht es, weshalb auch immer, freiwillig – und dies steht für: frei und willig! – zu einem autoritär geführten (schulischen) Kurs: Warum auch nicht, wenn er sich da und dabei wohlfühlt?
- Hingegen verweigert sich jemand der Mitwirkung an einer Veranstaltung, so ähnlich dem Menschen, der trotz eines guten Menüs gerade fasten will: Warum auch nicht?
- Ein in einer sehr strikten, dogmatischen Familie aufwachsender junger Mensch hält es daheim nicht mehr aus: Selbstbestimmt zieht er der häuslichen Indoktrination die staatliche gelenkte Schule vor: Warum auch nicht?
- Aus einem inneren Bedürfnis heraus möchte ein nicht mehr ganz junger Mensch bei regelmäßigen zielorientierten Treffen sowohl seine Erfahrungen, sein Wissen weitergeben als auch mit anderen sich austauschen und Kenntnisse erweitern: Ist dieses Bedürfnis nicht naheliegend?
Freiheit: genügt das übliche Postulat ihrer Doppelgesichtigkeit: „Nur durch Freiheit von… kann Freiheit für… gedeihen“, um sie zu beschreiben? Ist nicht jene andere Dimension der Freiheit wichtiger, welche das Recht voraussetzt, selbstverständlich auch „Nein, danke!“ zum Ausdruck zu bringen? Zwar magst Du davon überzeugt sein, mir Gutes zu bieten, doch mir steht es nunmal frei, dies auch abzulehnen, etwas anderes zu wünschen, dasselbe in einer anderen Gestaltung oder zu einem anderen Zeitpunkt …
Überhören wir an dieser Stelle die üblichen entsetzten „Abers…“, mit Argumenten wie: Dadurch würden nur asoziale Typen, nur Egozentriker, nur Tyrannen gezüchtet! Nein, die konkrete Erfahrung lehrt im Gegenteil, daß Menschen, die Respekt insbesondere vor ihrer Würde erfahren haben, ein natürliches Bedürfnis hegen, sich sozial kompetent in ein dynamisches Umfeld einzubringen!
Davon ausgehend, daß hier die Bedeutung von frei sich bilden bekannt ist, sollen nun die zwei Konsequenzen dieser Begrifflichkeit hervorgehoben werden:
- Frei sich bilden steht für einen grundlegenden Wandel vom System (hier der Institution Schule) hin zum Subjekt. Und daran gebunden für einen Ausbruch aus zivilisatorisch geprägten Vorstellungen, zuvörderst der Kindheit; hin zum Menschen, der selbstverständlich sein Lebenlang ein frei sich bildendes Wesen ist und bleibt. Logischerweise läßt sich dieser Wandel im Menschenbild und in dessen Ausgestaltung und die Ausrichtung auf das Prospektive nicht mit dem eine „Welt von gestern“ kennzeichnenden Begriff Schule umschreiben; daher lehne ich es schlicht ab, diesen Begriff Schule, der für eine Kasernierung von Mensch (genauer: von „Kind“) und Bildung einsteht, mit dem damit unvereinbaren frei sich Bilden in Verbindung zu bringen.
- Zweitens steht frei sich bilden für einen Wandel in der ethischen Haltung: andere Vorzeichen und Positionen offenbaren sich hier. Wo beispielsweise die Arbeit ein zentrales Kennzeichen der zivilisatorischen Ideologien war, so gilt nun die Muße als Merkmal menschlichen Lebens. In diesem Sinne könnte die bekannte Aussage, Frieden sei mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg, hier übertragen werden: Die Haltung, die das frei sich Bilden ermöglicht, geht weit über die bloße Ablehnung oder Verweigerung von Schule hinaus!
Aus der Erfahrung von allerlei systemischen Auseinandersetzungen, Komplikationen und Schikanen mit unwilligen, teilweise bösartigen (nicht)agierenden (Schul-)Behörden muß ich hinzufügen: Gewiß werden viele Menschen weiterhin an die so lieb und teuer gehegten Illusionen kleben, zu welchen m.E. die Hoffnung zählt, die Institution Schule zu reformieren, sie sogar frei zu machen; obwohl dieser systemimmanente Weg auf Anhieb aussichtsreicher erscheinen mag, wird er dennoch sich als obsolete Sackgasse erweisen. Der seine zwangsweise Beschulung ablehnende und selbstverständlich frei sich bildende Mensch ist der erste Schritt einer gewiß gefährlichen Gratwanderung, deren Abenteuer prospektiv ist, weil es auf dem unbedingten Respekt vor dem Menschen fußt. Daher mein eindeutiges Plädoyer: jenseits jeglicher Beschulung für den frei sich bildenden Menschen in einer freien Lebensform.
Quellen und Anmerkungen
Bildquelle: Pixabay
Dieser Beitrag erschien zuerst im August 2018 in der Zeitschrift “die freilerner” Nr. 80