Arno Gruen spricht vom „Wahnsinn der Normalität“ (4), Erich Fromm von der „Pathologie der Normalität“ (5). Als Pionier widmete sich Fromm systematisch den Grundzügen einer normopathischen Gesellschaft. In einem Interview aus dem Jahre 1977 äußerte er sich wie folgt:
„Die Normalsten sind die Kränksten, und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmt. Glücklich, der ein Symptom hat“ (6).
Es klingt vielleicht vermessen, aber er bringt damit zum Ausdruck, was ich in meiner Kindheit intuitiv wahrgenommen hatte, eine Wahrnehmung, die mir letztlich die Möglichkeit eröffnete, bei mir zu bleiben. Des Weiteren führt Fromm aus:
„Sehr viele Menschen, das heißt die Normalen, die sind so angepasst, die haben so alles, was ihr Eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, so Instrument, so roboterhaft geworden, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden; das heißt: ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Hass, das ist schon so verdrängt oder sogar so verkümmert, dass sie das Bild einer chronischen, leichten Schizophrenie bilden.“
Einiges spricht dafür, dass auch rein physische Krankheit sich letztlich auf Psychisches zurückführen lässt. Egal, ob psychisch, psychosomatisch oder „nur“ somatisch – wo Krankheit chronisch wird, verlässt das Kranke das Gesunde. Da wird Krankheit zum ernst zu nehmenden Widersacher des Lebendigen.
Die meisten unter uns tragen Verwundungen in sich. Sie gehören zum Leben. Es sind beileibe nicht nur Schicksalsschläge verursacht durch Naturgewalten oder den Tod eines geliebten Menschen, sondern auch die Verletzungen von Übergriffigkeit und Demütigung, Kränkung und Herabwürdigung – und man könnte meinen, in dieser Welt seien sie normal und gehörten zum Leben wie die Luft zum Atmen.
Das Vermächtnis einer schwarzen Pädagogik, wie sie uns Katharina Rutschky (7) vor Augen führte, tragen viele von uns noch immer in ihren Adern. Im Alter von neun Monaten wurde ich von meinem Vater – selbst ein „Opfer“ seiner Erziehung – während der Nacht in eine dunkle Kammer gesperrt, wo ich mir die Kehle aus dem Hals geschrien habe, bis ich schließlich verstummte. Wenn ich ungehorsam war, züchtigte er mich; auch dann und wann mal mit dem Teppichklopfer. Ich habe ihm längst vergeben und mich versöhnen dürfen. Wirkliches Heilwerden wäre sonst gar nicht möglich geworden. Meine Erfahrung, selbst Vater zu werden und mit eigenen Sinnen wahrzunehmen, wie subtil diese Mechanismen wirken, wenn unbewusste Prägungen und psychische Elterneinflüsse in der Identifikation als Vater sich Gehör verschaffen wollen, war äußerst befreiend.
Alice Miller arbeitete diesen psychodynamischen Sachverhalt meisterhaft in Werken wie „Am Anfang war Erziehung“ oder „Das Drama des begabten Kindes“ heraus. Dass sie selbst als Mutter in Bezug auf ihren eigenen Sohn Martin (8) durch ihre eigenen Erkenntnisse nicht davor gefeit war, sich in ihren ungelösten Anteilen mit ihrem Sohn zu verstricken, zeigt, wie hartnäckig solche Wirkkräfte sich erhalten wollen.
Vater zu werden mit allen Schattierungen war für mich eine der stärksten Heilerfahrungen.
Meinen Sohn kompromisslos als Subjekt zu betrachten, ihn nicht zu „behandeln“, was er mir, wenn ich mich in alten Verstrickungen verirrte, jedes Mal mit einer erstaunlichen Klarheit zu verstehen gab, wurde mir zum permanenten Spiegelbild meiner eigenen Lebendigkeit. Das Leben, als frei sich bildender Mensch, als der ich mich verstehe und in dessen Geiste ich meinem Sohn begegne, wirkte und wirkt wie ein Katalysator auf meine Heilwerdungsprozesse und die meiner Angehörigen.
In einem Raum, in dem wir uns als Subjekte begegnen, entsteht Frieden und Kohärenz in und um uns. Es ist der Raum, in dem Heilungsprozesse begünstigt werden.