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Frei sich bilden ???

2024-09-08T17:11:12+02:00

FREI SICH BILDEN??

Wie sieht es aus mit unserem Wunsch, sich frei bilden zu können? Denn der Rahmen dafür ist sehr eingeschränkt. Das hängt nicht nur von der Bildung und dem Bewusstseinszustand der Eltern ab – es gibt viele einschränkende Faktoren, abgesehen von den gesetzlichen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn unsere Kinder durften sich, soweit es möglich war, frei bilden. Das bedeutete oft, auf meine eigenen Bedürfnisse zu verzichten, etwa auf den Wunsch, nach meiner künstlerischen Ausbildung kontinuierlich in diesem Bereich zu arbeiten. Natürlich entsprach Vieles, was wir zur Schaffung der Möglichkeiten freier Bildung taten, auch meinen eigenen Wünschen.

Ich konnte viel Neuland betreten, sei es in Bezug auf mein Wissen oder durch die Erweiterung meines Freundeskreises mit gleichgesinnten Menschen, die sich im Dachverband für selbstbestimmtes Lernen in Wien organisierten. So wurden viele Möglichkeiten für zahlreiche Kinder geschaffen. Mein Lebenspartner und ich arbeiteten aktiv im Vorstand mit. Der Verein wurde vom Staat finanziell gerade so unterstützt, dass er aufrecht erhalten blieb. Viele ehrenamtliche Stunden und kreative Ideen flossen von zahlreichen Menschen in diesen Pool.

Es war nicht unser Ziel, Kinder in den üblichen Rahmen zu integrieren. Vielmehr wollten wir sie begleiten, damit sie zu kreativen, selbstbewussten Persönlichkeiten heranwachsen, die möglicherweise nicht in das bestehende System passen, weil sie nicht angepasst sind.

Ich erinnere mich an die Kritik von Yakov Hecht von der Hadera-Schule, die sich darauf bezog, was unsere „Wünsche“ für unsere Kinder sind. Es ging nicht darum, ihnen den Weg zum besseren Bankdirektor zu ebnen. Ihm lag es am Herzen, dass Kinder in unseren sogenannten Schulen wirklich wachsen können.

Das Thema ist vielschichtig. Manch gut etablierte Alternativschule war für meinen Geschmack manchmal eine kleinbürgerliche Veranstaltung, wie es Julius Mende nannte. Es ging also nicht nur um unsere Kinder, sondern um gesellschaftliche Veränderungen, die auch vor 30 Jahren schon notwendig waren.

Zurück zu uns Eltern: Wir müssen zunächst unsere Kinder ernähren können und Rahmenbedingungen für ihr Leben schaffen, die nicht zu eng sind. Dafür müssen wir an die Öffentlichkeit gehen, für weitere Strukturen sorgen und in diesem Sinne auch für gesellschaftliche Veränderungen einstehen. Bei aller Freiheit endet diese dort, wo die Grenze zum Nächsten beginnt. Es gibt so viel zu tun – ein Leben reicht dafür nicht aus, das ist Arbeit für mehrere Generationen.

Wir hofften auf Änderungen der Gesetze, denn wir arbeiteten nachweislich erfolgreich und wollten mehr Möglichkeiten für die Zukunft schaffen. In ganz Österreich gab es in jedem Bundesland Bewegungen in diese Richtung. Es müsste doch endlich erkannt werden, dass sich Menschen im herkömmlichen Schulsystem nicht gut entwickeln können. Doch oft passierte das Gegenteil: Die Gesetze wurden strikter, und etliche der sogenannten freien Schulen verkamen zu teuren, elitären Tummelplätzen.

Meine Kinder sind heute erwachsen. Ich beobachte genau, was ihnen gutgetan hat und wo es Defizite gibt, die durch ihre Prägungen entstanden sind. Ich bin stolz auf meine Kinder, denn alle haben sich so entwickelt, dass sie in dieser Gesellschaft leben und arbeiten können und dabei Impulse setzen, die ein Feuer in Richtung Freiheit entfachen. Wir konnten ihnen aus materiellen Gründen nicht alles bieten, unser Wissen, unsere Zeit und die Möglichkeit, mit uns zu leben und zu arbeiten, waren unser Angebot.

Wir reisten viel, verbündeten uns mit anderen Organisationen, was mich auch zu proGenia führte. Mit Olivier organisierten wir einige übergreifende Projekte. Es war ein Treffen von Menschen, die an neuen Bildungslandschaften arbeiten wollten – Oasen der Bildung nannten wir sie. Auch proGenia ist ein Teil dieser Ideen.

Ich schreibe hin und her und komme nicht auf den Punkt: Was soll das freie Bilden eigentlich sein? Ich bin vorsichtig, denn für egozentrische Menschen, die nur ihre Selbstverwirklichung im Blick haben, habe ich nichts übrig. Auch das kann bei freier Bildung herauskommen. So frei sehe ich das Leben und die Bildung eben nicht.

Ich zum Beispiel bin nicht frei. Meine Kinder, meine Enkelkinder – ich trage sie in meinem Kopf und meinem Herzen. Obwohl ich heute die Freiheit habe, zu tun und zu lassen, was ich will. Es brennt die Welt. Soll ich mich da einfach meiner Spiritualität hingeben, ohne mich von all dem berühren zu lassen? Ich lebe mit zwei Hunden, die meine Freunde sind und täglich von mir eine Antwort wollen.

Wie kann ich da, bei all dem, was mich umgibt, frei sein, mit so vielen Herzensangelegenheiten?

Und wenn ich weiter schaue und sehe, was um mich herum passiert? Kann man sich da wirklich zurückziehen und die Verantwortung, die man trägt, außer Acht lassen? Ich weiß mittlerweile, dass jede Antwort, die ich aus dem Herzen gebe, eine Kette von Schwierigkeiten nach sich ziehen kann. Ich gebe meine Antworten aus dem Herzen heraus und das ist oft nicht bequem (für Andere) Doch ich konnte mich aus meinem Erziehungsprogramm befreien und diese Freiheit verpflichtet.

All das, sind für mich wichtige Themen, wir konnten einige Antworten finden, doch viele Fragen sind offen, die wir vielleicht hier in diesem Rahmen diskutieren können.

 

Frei sich bilden ???2024-09-08T17:11:12+02:00

Freie Menschen fordern frei sich bilden – nicht: freie Schulen!

2024-06-23T22:34:18+02:00
Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin würde Ihnen mitteilen, sich für den Trockenheitsgrad von Regenwasser zu interessieren. Oder Ihr Freund die Überlebensstrategie von Fischen außerhalb des Wassers untersuchen wollen: Welche wäre Ihre Reaktion? Und was dächten Sie, jemand wolle den Freiheitsgrad der im Gefängnis Einsitzenden analysieren?


So ähnlich ergeht es mir, wenn jemand – allemal in Deutschland – die Begriffe Schule und Freiheit miteinander verbinden will: für mein Dafürhalten eine Quadratur des Kreises. Ja, gewiß hegen jene, die Schule und Freiheit aneinanderkoppeln, eine gute Absicht: vielleicht wollen sie den einen oder anderen Übelstand der Institution Schule abstellen, etwa das Fremdbestimmte, den Zwang… Dennoch: Stimmt das anzustrebende Ziel? Ist der Weg dahin der richtige? Ist das gewählte Mittel überhaupt geeignet? (Nur zur Verdeutlichung: Ist eine sog. freie Kirche etwas anderes als eine Kirche? Wer aber – weshalb auch immer – das Kirchliche ablehnt, kann deshalb die religiöse Ergriffenheit des Menschen dennoch hinnehmen. Wäre es nicht abwegig, jene Ergriffenheit, das Numinose nur wegen der jahrtausenden Zweckentfremdung und des Mißbrauchs durch Kirchen zu leugnen? Die Ähnlichkeit mit der hier aufgegriffenen Thematik ist nicht zufällig!)


Zugegebenermaßen bin ich hinsichtlich der Verwendung von Begriffen sehr pingelig: so wie rot nunmal nicht für grün und die Erde nicht für das Meer steht, so bezeichnet das Wort Schule etwas Bestimmtes, das keiner beliebigen Deutung unterworfen werden kann. Weshalb postuliere ich diese begriffliche Unvereinbarkeit? Zu dieser klaren Ansage bewegen mich insbesondere drei Aspekte:

  • Was Schule ist, wird durch staatliche Schulbehörden definiert, entsprechend genehmigt (also für genehm gehalten!) oder eben untersagt. (Zur Verdeutlichung greife ich mal auf ein Beispiel aus Österreich zurück: Selbst wer auf Antrag von der Schule „in den familiären Unterricht“ entlassen wird, muß eine jährliche schulische Prüfung absolvieren, womit die staatlichen Behörden abermals ihre Macht und Gewalt dokumentieren: Auch außerhalb der „normalen Schullaufbahn“ bleiben Menschen der staatlichen Schule unterworfen. Sollten die Prüfungen nicht befriedigend ausfallen, werden sie zwangsweise in die schulische Normalität zurückgeführt. Der Widerstand gegen solch vor- und antidemokratische Gewalt und Willkür nimmt auch in Österreich zu: Wird es gelingen, ihr durch zu erstreitende höchstrichterliche Beschlüsse ein Ende zu setzen?) Außerhalb der monopolartigen Deutungshoheit kommen mir nur folgende Wort-Ausnahmen in den Sinn: Baumschule, Hundeschule, Fahrschule, Volkshochschule und Musikschule unterstehen gewiß nicht der schulbehördlichen Autorität…
  • Schule? Welch seltsame Idee, einen Ort abseits des eigentlichen Lebens zu schaffen, um da die zwangsweise nach Alter eingepferchten Menschen in Klassen, nach einem festgelegten Programm, zu einem definierten Zeitpunkt, mit klaren Vorgaben zu unterrichten, zu prüfen und zu sortieren. Eine Institution für… nein: gegen sog. Kinder, die ob ihrer Minderjährigkeit verfassungswidrig zu Minderwertigen erniedrigt werden und deren „erfolgreiches Werden“ an die schulische Wohlerzogenheit gebunden wird.Zur Aufgabe der Schule, Menschen zu braven, gehorsamen Staatsbürgerinnen und -bürgern zu machen, gehört es, Neugier zu ersticken: beispielsweise durch den Vorgang des Lernens (was im Fachjargon als „Bulimie-Lernen“ bezeichnet wird, ist bloß ein Schönreden dieses Dramas!) Welcher Ort, der weitgehend unabhängig von den eigentlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten der da anwesenden Menschen vorgeht, könnte jemals gesund, lebendig, menschlich sein? Ist es nicht naheliegend, daß es die in einem solch künstlichen Gebilde aufkommenden schulspezifischen Nöte und Dramen ohne diese Schule nicht gäbe, nicht geben könnte? Wie lange wird just der Staat an dieser Schule „kleben“, sie unterhalten und sanktionieren und das im Grunde verfassungswidrige staatliche Schulmonopol aufrechterhalten? Nun, der sich hieraus ergebende Schulanwesenheitszwang wird fallen, sobald es nicht mehr um Schule an sich geht, sondern um den Menschen, um jeden Menschen: Die Tatsache, daß Menschen mit aktiven, kreativen und sozialen Kompetenzen geboren werden und mit einer beneidenswerten Neugier und Begeisterungsfähigkeit danach trachten, ja geradezu nicht umhin kommen, daß solche Energie und Dynamik sich entfaltet, mündet folgerichtig in sein Recht, selbstverständlich frei sich zu bilden.Angesichts der staatlichen Reglementierung der Institution Schule verwundert es nicht, daß es hierzulande keiner Schule gelingen kann, sich erfolgreich und dauerhaft diesem Wahn zu entziehen und zu widersetzen: Wer damit aufhören will, wird erkennen, daß in der Unvereinbarkeit von Leben und (jeder) Schule die Chance des prospektiven Wandels liegt: hin zu frei sich bilden!
  • Doch eigentlich geht es gar nicht um die Schule an sich, sondern darum, was sie darstellt: Sie ist nämlich nur die instrumentelle Verkörperung einer zivilisationstypischen Ideologie, die alles Lebendige, Natürliche, Menschliche erobern, beherrschen, unterwerfen will und muß. Daher: Das Bekämpfen der Schule, welche lediglich die symbolische Stellvertretung dieser Ideologie ist, ähnelt der Absicht, das Fiebermesser zu vernichten, der mir Un(an)genehmes anzeigt. Deshalb könnte es Wichtigeres geben als das widersinnige Schattenboxen eines Kampfes für eine Schule oder gegen eine Schule: Sobald es nicht mehr um bloße Symptome geht, sondern um Menschen und um ihr Recht, frei sich zu bilden, zeigt sich, daß solche Selbstverständlichkeiten allesamt mit zivilisatorischen Ideologien und Institutionen schlicht unvereinbar sind…


Gewiß steht es mir nicht zu, die ursprüngliche gute Absicht von betroffenen Müttern und Vätern oder von beherzten Lehrerinnen und Lehrern in Abrede zu stellen: Wieviel Herzblut haben sie „investiert“, um eine Schule zu konzipieren, zu gründen, zu leiten, aufrechtzuerhalten. Bekanntlich ist allerdings Wohlmeinen nicht automatisch auch Wohltun!

Das Hoffen auf eine „freie Schule“ ruft nach der Klärung, wofür diese Freiheit stehen könnte. Da in Deutschland keine Schule „frei“ von Genehmigung und staatlicher Aufsicht sein kann, läßt sich kein von einer Schule gehegter Anspruch verwirklichen, unabhängig von der staatlichen Definitionsmacht zu sein.

Worauf beschränkt sich die Freiheit dann? Auf die Gestaltung des Unterrichts? Auf die parlamentarische Organisation? Auf die Verankerung eines Justizwesens? Recht und gut, allein: Was geschieht, ein seine Freiheit beanspruchender junger Mensch verweigert sich selbst dieser ach wie freien Schule, weil er womöglich andere Wege vorzieht, um seine Neugier zu befriedigen, um seine Kompetenzen zur Entfaltung zu bringen oder seine sozialen Kontakte zu pflegen? Vielleicht ist er eher ein Nachttyp, der problemlos von Nachmittags bis spät in die Nacht dies und jenes entdeckt und praktiziert? An welcher deutschen Schule soll dies möglich sein?

Für mich, der ich just in dieser sensiblen Angelegenheit sehr vorsichtig mit Begriffen umzugehen pflege, ist nicht erheblich, ob eine Schule frei ist; einzig wesentlich, wesenhaft, ist, ob der Mensch frei ist: Freiheit kann sich nur auf das Subjekt beziehen, dessen Selbstbestimmtheit und Würde es unbedingt und bedingungslos zu respektieren gilt. Etwa dessen ernstzunehmendes Vermögen und Bedürfnis, frei sich zu bilden.

Dies möchte ich an folgenden unterschiedlichen Situationen verdeutlichen:

  • Einen jungen Menschen zieht es, weshalb auch immer, freiwillig – und dies steht für: frei und willig! – zu einem autoritär geführten (schulischen) Kurs: Warum auch nicht, wenn er sich da und dabei wohlfühlt?
  • Hingegen verweigert sich jemand der Mitwirkung an einer Veranstaltung, so ähnlich dem Menschen, der trotz eines guten Menüs gerade fasten will: Warum auch nicht?
  • Ein in einer sehr strikten, dogmatischen Familie aufwachsender junger Mensch hält es daheim nicht mehr aus: Selbstbestimmt zieht er der häuslichen Indoktrination die staatliche gelenkte Schule vor: Warum auch nicht?
  • Aus einem inneren Bedürfnis heraus möchte ein nicht mehr ganz junger Mensch bei regelmäßigen zielorientierten Treffen sowohl seine Erfahrungen, sein Wissen weitergeben als auch mit anderen sich austauschen und Kenntnisse erweitern: Ist dieses Bedürfnis nicht naheliegend?


Freiheit: genügt das übliche Postulat ihrer Doppelgesichtigkeit: „Nur durch Freiheit von… kann Freiheit für… gedeihen“, um sie zu beschreiben? Ist nicht jene andere Dimension der Freiheit wichtiger, welche das Recht voraussetzt, selbstverständlich auch „Nein, danke!“ zum Ausdruck zu bringen? Zwar magst Du davon überzeugt sein, mir Gutes zu bieten, doch mir steht es nunmal frei, dies auch abzulehnen, etwas anderes zu wünschen, dasselbe in einer anderen Gestaltung oder zu einem anderen Zeitpunkt …

Überhören wir an dieser Stelle die üblichen entsetzten „Abers…“, mit Argumenten wie: Dadurch würden nur asoziale Typen, nur Egozentriker, nur Tyrannen gezüchtet! Nein, die konkrete Erfahrung lehrt im Gegenteil, daß Menschen, die Respekt insbesondere vor ihrer Würde erfahren haben, ein natürliches Bedürfnis hegen, sich sozial kompetent in ein dynamisches Umfeld einzubringen!

Davon ausgehend, daß hier die Bedeutung von frei sich bilden bekannt ist, sollen nun die zwei Konsequenzen dieser Begrifflichkeit hervorgehoben werden:

  • Frei sich bilden steht für einen grundlegenden Wandel vom System (hier der Institution Schule) hin zum Subjekt. Und daran gebunden für einen Ausbruch aus zivilisatorisch geprägten Vorstellungen, zuvörderst der Kindheit; hin zum Menschen, der selbstverständlich sein Lebenlang ein frei sich bildendes Wesen ist und bleibt. Logischerweise läßt sich dieser Wandel im Menschenbild und in dessen Ausgestaltung und die Ausrichtung auf das Prospektive nicht mit dem eine „Welt von gestern“ kennzeichnenden Begriff Schule umschreiben; daher lehne ich es schlicht ab, diesen Begriff Schule, der für eine Kasernierung von Mensch (genauer: von „Kind“) und Bildung einsteht, mit dem damit unvereinbaren frei sich Bilden in Verbindung zu bringen.
  • Zweitens steht frei sich bilden für einen Wandel in der ethischen Haltung: andere Vorzeichen und Positionen offenbaren sich hier. Wo beispielsweise die Arbeit ein zentrales Kennzeichen der zivilisatorischen Ideologien war, so gilt nun die Muße als Merkmal menschlichen Lebens. In diesem Sinne könnte die bekannte Aussage, Frieden sei mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg, hier übertragen werden: Die Haltung, die das frei sich Bilden ermöglicht, geht weit über die bloße Ablehnung oder Verweigerung von Schule hinaus!


Aus der Erfahrung von allerlei systemischen Auseinandersetzungen, Komplikationen und Schikanen mit unwilligen, teilweise bösartigen (nicht)agierenden (Schul-)Behörden muß ich hinzufügen: Gewiß werden viele Menschen weiterhin an die so lieb und teuer gehegten Illusionen kleben, zu welchen m.E. die Hoffnung zählt, die Institution Schule zu reformieren, sie sogar frei zu machen; obwohl dieser systemimmanente Weg auf Anhieb aussichtsreicher erscheinen mag, wird er dennoch sich als obsolete Sackgasse erweisen. Der seine zwangsweise Beschulung ablehnende und selbstverständlich frei sich bildende Mensch ist der erste Schritt einer gewiß gefährlichen Gratwanderung, deren Abenteuer prospektiv ist, weil es auf dem unbedingten Respekt vor dem Menschen fußt. Daher mein eindeutiges Plädoyer: jenseits jeglicher Beschulung für den frei sich bildenden Menschen in einer freien Lebensform.

 

Quellen und Anmerkungen

Bildquelle: Pixabay

Dieser Beitrag erschien zuerst im August 2018 in der Zeitschrift “die freilerner”  Nr. 80

 

Freie Menschen fordern frei sich bilden – nicht: freie Schulen!2024-06-23T22:34:18+02:00

Mensch oder Nicht-Mensch: das ist die Frage!

2024-06-13T19:05:55+02:00

kritische Reflektion über eine Grundgesetzänderung

In der heute aufgeheizten und oftmals polarisierten Stimmung in Deutschland ist es seltsam genug: Wer sich just dem bedingungslosen Respekt vor der Würde, vor der Selbstbestimmtheit, vor der Kompetenz eines jeden Menschen widmet, kann zwischen alle Fronten geraten! Trotz der Gefahr, mich in die Nesseln zu setzen, möchte ich den Versuch wagen, eine Position zu erläutern, die sich, da jedweder ideologischen, parteipolitischen oder religiösen Vereinnahmung und jedweder Spaltung entziehend, im Grunde selbstverständlich sein sollte.

 

Vorab: Vor vierzig Jahren war auch ich noch naiv genug, meine entsprechenden Forderungen als „kinderrechtlich“ zu bezeichnen: ganz im Sinne von anderen Befreiungsbestrebungen, hier insbesondere jener, die aus den USA als „childrens liberation movement“ überschwappte. In meinem Vertrauen darauf, daß der Bundestag eine widersinnige und verfassungswidrige Rechtslage ändern würde, sobald seine Mitglieder über diesen himmelschreienden Skandal informiert wären, daß also die damals gesetzlich gebotene Gewalt gegen Kinder, die insbesondere vom Staat ausging, als Relikt einer Welt von gestern abgeschafft werden müßte, war ich Mitunterzeichner des am 10. Dezember 1983 an alle Abgeordneten des Bundestags gerichteten „Kinder-Doppelbeschlusses – eine Initiative der deutschen Kinderrechtsbewegung für den Frieden zwischen den Generationen“ 1 Später erst wurden mir die sich eröffnenden neuen Gefahren deutlich, wenn für die zu sog. Kindern gemachten Menschen Sonderrechte fixiert werden: Einfallstor für das Verankern eines sie weiter diskriminierenden Sonderstatus. Leider fand meine Skepsis eine dreifache Bestätigung, als über die von der UN vorgeschlagene „Kinderrechtskonvention“ debattiert wurde:

  • Zum einen wird darin ein eigenständiger Status „Kindheit“ festgeschrieben.
  • Hierdurch verkommt zum zweiten der junge Mensch zum Objekt eines von außen zu definierenden Wohlmeinens.
  • Zum dritten wurde zwar die UN-Kinderrechtskonvention auch in Deutschland ratifiziert und bekam den Verfassungsrang; nur: wen interessiert dies? Selbst bei gerichtlichen Auseinandersetzungen wäre es naiv, gar töricht, sich auf sie zu berufen! Solche Papiere, allenfalls nützlich für sonntägliche Fensterreden, sind Makulatur.

Da es mir wichtig erschien, nichts unversucht zu lassen, wandte ich mich im März 2017 an den neuen Bundespräsidenten, Herrn Frank-Walter Steinmeier, um nochmals auf die Gewalt hinzuweisen, die in Deutschland vom Staat ausgeht und unter welcher Menschen nur deshalb zu leiden haben, weil sie jung sind und daher als Kinder bezeichnet werden. Welch wahrlich deprimierende Antwort kam vom Bundespräsidialamt! Und was ihr folgte, wird vielleicht zu einem späteres Zeitpunkt nachzulesen sein…
Was sich mir hierbei bestätigte: Es werde wahrlich nicht so leicht sein, dieser nicht zufällig, nicht beiläufig erfolgenden „strukturellen Gewalt“ beizukommen, vor allem jener, die vom Staat, seiner Gesetzgebung, seinen Behörden, seiner Justiz ausgeht.

Und nun steht ein neuer Vorstoß an: unsere ach wie fürsorglichen Regierenden planen eine Verankerung der sog. Kinderrechte in unser Grundgesetz. Nicht allein dieser erneute Versuch ist bemerkenswert; ebenso bedenklich ist, daß die von einem mir unbekannten Menschen hiergegen gerichtete Petition an den Bundestag in manchen sog. sozialen Medien einen Sturm an polarisierenden Auseinandersetzungen auslöste. Vorneweg: von diesem „shit storm“ habe ich erst im Nachhinein erfahren.

Diese Petition richtet sich gegen ein ganz subtil daherkommendes Ansinnen: Der Grundgesetz-Artikel 6, der sich mit Ehe und Familie befaßt, soll durch einen neuen Absatz 1a ergänzt werden, welcher, um die Rechte von Kindern zu sichern, folgendermaßen lautet:

„Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich des Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Klingt dies nicht zunächst gut, vernünftig, naheliegend, gar selbstverständlich? Allein es stellen sich einige Fragen, die einer kritischen Betrachtung bedürfen – und leider einer kritischen Überprüfung kaum standhalten…

  • Ganz grundsätzlich (und grundgesetzlich) ist zu fragen, ob junge Menschen auf Grund ihres Alters, nein: ihres Jungseins keine Menschen sind. Wenn doch, dann stehen ihnen ohnehin alle Grund- und Menschenrechte zu. In diesem Sinne „genießt“ das „ungeborene Leben“ den unbedingten Schutz seines Daseins; weshalb werden Menschen nach der Geburt und bis zu ihrer Volljährigkeit nicht als vollgültige Menschen angesehen und behandelt? Allein das positive Beantworten dieser Fragen erspart das Erschaffen einer Sonderkategorisierung samt der Stigmatisierung des jungen Menschen zum „Kind“ und dessen entsprechender Behandlung.
  • Obwohl unsere Verfassung ganz eindeutig postuliert, daß jeder Mensch ein Subjekt ist, dem der unbedingte und bedingungslose Respekt vor zuallererst seiner Würde gebührt, entstand im – auch juristischen und gerichtlichen – Alltag jene Objekt-Kategorisierung, die de facto das „Kind“ zum „Besitz“ von Elternschaft und/oder Staat macht; als Gegenstand einer Erziehung wird es zum Zögling, der auf eine von außen definierte, mit dem Mantel des Wohlmeinenden verkleidete Zukunft programmiert wird; als „Minderjähriger“ wird er zum Minderwertigen; und als Wißbegieriger wird er in ein abseitiges Schutzreservat gesteckt, in dem er angeblich richtig sozialisiert, sprich: zivilisiert werden soll: sein „Schüler“-Status dokumentiert die gemachte Abhängigkeit von der staatlich erzwungenen, gelenkten und sanktionierten Institution Schule (Im Grunde beginnt die Beschulung mit den Krippen, Kitas usw. und macht nicht einmal mehr vor den Universitäten, Volkshochschulen usw. halt!). In all diesen Rollen wird dem Menschen, wie jung oder weniger jung er auch immer sein mag, die Möglichkeit vorenthalten, als Subjekt zu gelten und sich so einzubringen. Welche vielfältigen Probleme, Nöte, Zwänge, Streitereien ergeben sich aus diesen normativen Rollenzuweisungen, welche in weit zurückliegenden, vor- und teilweise antidemokratischen Zeiten wurzeln: etwa um die Frage, wer die Hoheit hat, bei Entscheidungen das „Kindeswohl“ zu definieren…
  • „Rechtliches Gehör“? Da dem jungen Menschen unterstellt wird, sich nicht selbst äußern zu können, wird ihm bei ihn betreffenden juristischen Auseinandersetzungen ein „Beistand“ gewährt. Die konkrete Erfahrung der letzten Zeit hat leider gezeigt, daß dieser Beistand in den wenigsten Fällen die wahren Interessen des „Betroffenen“ vertritt und zumeist, sogar gegen dessen ausdrücklichen Willen und Wunsch, ein normatives System reproduziert (siehe beispielhaft: 2) Da bisher von einem rechtlichen Gehör als Subjekt keine Rede sein kann, ist nicht davon auszugehen, daß dies durch die Neuregelung besser würde, im Gegenteil…
  • Nachdem es im gelebten Alltag – ungute – Situationen geben mag, die den zwischenmenschlichen, vor allem den zwischengenerationellen Frieden gefährden, war es wichtig, den §1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs neu zu fassen und ein klares Verbot jeglicher erzieherischen Gewalt zu postulieren. Wohlgemerkt: Gewalt kann nicht von jenen definiert werden, die sie ausüben, sondern nur von jenen, die sie erleiden und als solche empfinden. Und just dies macht ein Grundproblem offensichtlich: Kann es dem Staat und seine Behörden – unter welchem Vorwand auch immer – gestattet sein, sich als Gewalttäter zu verhalten, insbesondere mit dem Alibi, dies zum Wohle des Kindes zu tun? Scharfer Tobak? Mitnichten! Das, was vielen der betroffenen jungen Menschen zwangsweise angetan wird, ist nunmal Gewalt. Das Dramatische hierbei ist nicht nur, daß die Betroffenen es so empfinden mögen, sondern vor allem daß ihnen keine Möglichkeit gewährt wird, sich hiergegen zur Wehr zu setzen. Denn das wohlfeile Alibi des Staates und seiner vielfältigen Behörden und Justiz ist das ominöse Wort „Kindeswohlgefährdung“!

Über den allgemein kursierenden Begriff „Kindeswohlgefährdung“, der in seiner Konsequenz mindestens so dramatisch ist wie anno dazumal der Begriff Hexe, eine wichtige Anmerkung: Dieses Wortungetüm beruht auf der Annahme eines „Kindeswohls“, für welches es allerdings keinerlei objektivierbaren Stellenwert, keine klare Definition gibt. Hierzu möchte ich insb. Matthias Matussek „die Vaterlose Gesellschaft“ zitieren:

„Kindeswohl ist wahrscheinlich das zynischste Lügenwort, das sich ein deutscher Justiz- und Behördenapparat seit über 50 Jahren hat einfallen lassen: Eine Worthülse, um noch das größte Verbrechen gegen Kinder zu decken.“ 3

Wenn aber bereits das „Kindeswohl“ nicht definierbar ist, wie dann die ominöse „Kindeswohlgefährdung“? Einerlei: Wenn Behörden wie Schul- oder Jugendämter eine solche postulieren, wird ein zumeist teuflisches Verfahren eingeleitet, bei welchem der betroffene junge Mensch wahrlich nicht als Subjekt erscheint, sondern als Objekt der Auseinandersetzungen. Will heißen: ohne Mitspracherecht.

Wer glaubte, die grundgesetzliche Neuregelung würde dies zum Guten ändern, ist entweder naiv oder hinterlistig: Denn es bedarf der Neufassung gar nicht, um den Staat, seine Behörden und seine Justiz dazu zu verpflichten, endlich die Grundrechte des jungen Menschen zu respektieren. Was über fünfzig Jahre möglich weil geboten gewesen wäre, aber nicht erfolgte, wird durch diese Maßnahme nicht besser, nur dramatischer…

* * *

Nun sollte ein wichtiges verfassungsrechtliches Detail deutlich hervorgehoben werden: Im Zentrum unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung steht der Mensch als unbedingtes Subjekt; der Öffentlichen Hand (in diesem Zusammenhang meide ich mit Bedacht das problembeladene Wort „Staat“!) kommt eine als Subsidiaritätsprinzip umschriebene unterstützende und dienende Rolle zu. Auch Behörden, etwa die Jugendämter, sind an diese Vorgaben gebunden und dürften nur dann aktiv werden, wenn ein junger Mensch eindeutig in Gefahr ist und der Unterstützung bedarf, die ihm von anderen nicht gewährt wird; keineswegs steht es einer Behörde zu, sich als Helfende aufzudrängen und gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen zu handeln, sogar gewalttätig einzugreifen.

Stattdessen führte die ungute Situation, in welche junge Menschen hineingedrängt wurden (als Schutzbefohlene wurden sie zu Objekten verschiedenartiger Zwangsbeglückung; nur Subjekte durften sie nicht sein!), zu immer dramatischeren Zwängen: Da die Politik nicht anders ist als die Gesellschaft, in die sie eingebettet ist, verwaltet sie aufkommende Probleme durch immer weitere Reformen. Diese Reformen be- und verstetigen die bestehenden Normen.

Deshalb ging es nicht darum, was der Psychologe Richard Farson bereits in den 1970er Jahren formuliert hatte: „Wir sollten umdenken und nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechte schützen“ 4, sondern genau umgekehrt: in eine immer weitere Verstärkung des Schutzes und somit in eine immer größer werdende Abhängigkeit der Schutzbefohlenen. Nachdem bestimmte Setzungen, die ich als „Normen der Normalität“ umschreibe, gar nicht mehr infrage gestellt wurden, nachdem etwa „das Kind“ als Selbstverständlichkeit galt und kaum jemand sich hiergegen wehrte, geschweige denn auf den Widerspruch zu den verfassungsmäßigen Menschenrechten hinwies, kam als Krönung die von den UNO-Mitgliedern verkündete „Kinderrechtskonvention“ daher, welche somit Verfassungsrang erlangen sollte. Obschon Deutschland diese „Kinderrechtskonvention“ – nach einigen nicht unwesentlichen sprachlichen Veränderungen – ratifiziert hat, wäre anzunehmen gewesen, daß in den möglichen Auseinandersetzungen zwischen jungen Menschen und staatlichen Behörden ein Wandel eintreten müßte; selbst bei Gericht konnte es nur als naiv abgetan werden, sich auf einige der wesentlichen Aussagen und Postulate der Kinderrechtskonvention zu berufen… Will heißen: in den wenigen positiven Aspekten ist diese Konvention irrelevant, aber genau deshalb gefährlich, weil sie die Objekthaftigkeit vom „Kind“ verankert. Hierdurch erweist sich dieses Machwerk als ein weiteres Element der subtilen Diskriminierung, indem es den unmißverständlichen grundgesetzlichen Kernaussagen widerspricht: den Menschenrechten.

* * *

Es sollte nicht unwesentlich sein zu erörtern, daß es derzeit vor allem zwei gegensätzliche gesellschaftliche Tendenzen gibt:

  • Jene Strömung, welche etwa die tradierten Werte und Vorstellungen der Familie erhalten wissen wollen, wird zumeist als bürgerlich-konservativ bezeichnet. In vielen Fällen bedeutet „bürgerlich“ auch, daß der Mensch als einzelner respektiert werden müsse. Politisch wird diese eher als konservativ geltende Position als rechts oder sogar als faschistoid beschimpft.
  • Eine andere Strömung ist eher bemüht, den bürgerlichen Werten und Normen ein Ende zu bereiten und den Menschen im Namen des zivilisatorischen Fortschritts in ein eher von vielen sozialen Institutionen geprägtes Umfeld zu setzen (mit Kreißsälen, Kitas, Schulen…). Politisch ist diese Position eher links anzusiedeln.

Die „Links-Rechts-Polarisierung“ möchte ich an einem zwar extremen, aber leider sehr realen Beispiel verdeutlichen, wofür es einer historischen Betrachtung bedarf. Die im 19. Jh. grassierende unsägliche Säuglingssterblichkeit war im (Sub-)Proletariat zuvörderst auf mangelnde Hygiene zurückzuführen. Ignaz Philipp Semmelweis, geb. 1.7.1818, genannt: Dieser ungarische Gynäkologe und Entdecker der Ursache des Kindbettfiebers wurde auch „Retter der Mütter“ genannt. Selbst wenn der Kreißsaal als die damalige Antwort auf die dramatischen Bedingungen angesehen werden kann, so ging damit eine zwar als Fortschritt gefeierte, dennoch subtile Medikalisierung der Schwangerschaft und der Geburt einher. Bekanntlich haben sich seitdem die Lebensbedingungen in Hinblick auf die Hygiene verändert; als natürliche Lebensprozesse bedürfen Schwangerschaft und Geburt üblicherweise keiner Medizin. Da ist kritisch zu fragen: Sind Schwangerschaft und Geburt ohne medizinische Einmischung oder Bevormundung etwas so Seltsames, gar so Gefährliches, daß als zeitgemäß und normal die „Sozialisierung der Geburt“ im Kreißsaal gilt und jene Mütter (und Väter), welche die Normalität des Kreißsaales ablehnen, folglich als naturverliebt und als fortschrittsfeindlich verschrien, gar als bürgerlich-konservativ beschimpft werden? Demgegenüber würde einzig der klammheimlich propagierte Kaiserschnitt den planmäßigen Verlauf gewährleisten: in Deutschland inzwischen über 30% der Geburten 5. Läßt sich an diesem Beispiel verdeutlichen, wie widersinnig und gefährlich es ist, mit politischen Kategorisierungen oder Disqualifizierungen zu operieren, indem die solchen Urteilen zugrundeliegenden Normen nicht entlarvt wurden?

Nun gab es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vielerlei Versuche von Seiten des Staates und seiner Behörden, in das Leben der Menschen einzugreifen und dieses zu regulieren, folglich zu regieren. Während einige der allzu offensichtlich verfassungswidrigen Zugriffe abgewehrt wurden, kommen andere so subtil-verschleiert daher, daß sie kaum durchschaut und daher als Fortschritte gefeiert werden.

Ein Beispiel: Vor Jahrzehnten ergab eine Befragung bei Müttern und Vätern, ob sie ihren Nachwuchs einer Krippe oder einem Kindergarten anvertrauen wollten, statt einer zustimmenden Mehrheit nur eine Ablehnung. Nachdem dasselbe Ansinnen dann als ein „Recht auf einen Kindergartenplatz“ daherkam, stritten Eltern plötzlich um das Recht auf die knappen Plätze – indes Mütter daheim sich mit jämmerlichen und schandbaren 100€ abfinden sollten. In dieser Hinsicht ist dem Staat bravourös gelungen, das ehemalige SED-System der DDR zu überholen, indem der bundesdeutschen Bevölkerung vorgehalten werden konnte, mit seiner Gesetzgebung respektiere der dienende Staat den Willen der Bevölkerungsmehrheit. Auf die Gefahr hin, mich vollends in die Nesseln zu setzen, kann ich solche „Fortschritte“ nur bezeichnen als Zeichen einer Diktatur des sozialen Wohlmeinens (Wohlmeinen steht bekanntlich oft im Widerspruch zu Wohltun!). Über die katastrophalen Ergebnisse solch totalitärer Zwangsbeglückung wird uns bereits eine traurige Quittung serviert: in Gestalt von mannigfachen, bekanntlich für ganz anderes stehenden Symptomen. Nein, die immer zahlreichen lustlosen, antriebsschwachen, demotivierten, labilen Menschen, die steigende Zahl an angeblichen „Problemfällen“, die „Kranken“, die „Abnormalen“ (ich lege Wert auf die Anführungszeichen!), die mehr werdenden „funktionalen Analphabeten“ und „Gescheiterten“ und viele andere sind kein Zufall… Und die Tragik solch staatlicher Vergewohltätigung ist: Was vollends an der Natur des eigentlich lebenspotenten, offenen, sozialen, kompetenten Menschen vorbeigeht und diese verfremdet, birgt die immer deutlicher werdende Gefahr, daß auf diesem geplünderten Planet ein menschliches Leben gar nicht mehr möglich ist.

Was hat dies mit unserem eigentlichen Thema zu tun? Angesichts des erneuten, nun ganz subtilen Vorstosses der Politik, das Grundgesetz zu ergänzen, um „Kinderrechte“ darin zu verankern, gilt es, sehr genau hinzuschauen, auch mit dem Grundsatz der Kriminalistik zu fragen: „cui bono?“ (Für wen ist dies gut?) – womit ich verdeutlichen möchte, weshalb ich diesen gefährlichen Vorstoß strikt ablehne:

  • Zunächst: Alles Wesentliche, vor allem der unbedingte und bedingungslose Respekt vor jedem Menschen ist in den Artikeln 1 bis 19 unseres Grundgesetzes enthalten: insbesondere der Schutz des Menschen vor der Übergriffigkeit durch den Staat und seine diversen Behörden. Dieses eindeutige Postulat bedarf keinerlei gesetzlicher Änderung und noch viel weniger einer grundgesetzlichen Ergänzung.
  • Zumal die vorgeschlagene Ergänzung eben nicht den Menschen in seiner Identität bestätigt und bestärkt, sondern jene Kindheit verankert, die als tradiertes und normiertes Vorurteil unserer Zivilisation dennoch eine künstliche Konstruktion ist und bleibt.
  • Ist einmal der Objektstatus verankert, geht es um die Frage, wer die Macht hat oder bekommt, das Objekt zu regieren – was einen wahrlich komplexen und fast teuflischen Mechanismus in Gang setzt! Da es sich nicht mehr um ein Subjekt handelt, müssen „höhere Mächte“ definieren, was für dieses Objekt gut oder schlecht, geeignet oder schädlich, erforderlich oder verboten sein soll: verkleidet mit dem auf Anhieb neutralen Begriff „Kindeswohl“. Im Gegensatz zum (Nicht-)Wollen, das ein jedes menschliche Wesen zu artikulieren vermag, wird das Wohl der normativen Definitionsgewalt der hierfür zuständigen Behörden überantwortet. Dies an einem – hundertfach erwiesenen – Beispiel verdeutlicht: Wächst eine Tochter oder ein Sohn in zu großer Nähe zur Mutter auf, die auch noch „Alleinerziehende“ ist, wird das ach wie fürsorgliche Jugendamt eine psychische Gefährdung des Nachwuchses postulieren („Mutter klammert!“) und alsbald dafür plädieren, der „gefährlichen Mutter“ das Sorgerecht für die Tochter/den Sohn zu entziehen. In diesem Sinne formulierte der Politiker Olaf Scholz bereits 2002, die SPD wolle die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ erlangen – es könnte sein, daß dies mit dem jetzt vorgelegten Entwurf einer Verfassungsänderung gelingen könnte…

* * *

Im Vorfeld zum thematisierten grundgesetzlichen Vorhaben gelang es der Politik immerhin, die Nation in zwei unvereinbare Lager zu spalten:

  • Auf der einen Seite gibt es die eher im linken Spektrum angesiedelten Wohlmeinenden, denen die „strukturelle Zwangsbeglückung“ endlich gelänge: Endlich wären die zu „Kindern“ gemachten jungen Menschen dem allzu schädlichen Einfluß der (spieß)bürgerlichen Familie – Hort neurotisierender, ewig konservativer Werte – entzogen und unter staatliche Kuratel gestellt, da – wider besseres Wissen – nichts so gut ist wie die Segnungen von Vater Staat.
  • Auf der anderen Seite steht „die Familie“, die sich beispielsweise auf GG-Art. 6 beruft und im Extremfall ihren Nachwuchs als „heiligen Besitz“ betrachtet. In diesem Spektrum tummeln sich zweifellos Menschen und Gruppierungen, denen es, vielleicht aus ideologischen, politischen oder religiösen Beweggründen, wahrlich nicht um den Respekt vor der Würde, Selbstbestimmtheit, Kompetenz des jungen Menschen geht. So sind hier beispielsweise jene religiösen Gruppierungen zu nennen, die der aus ihrer Sicht schädlichen staatlichen Beschulung ihren häuslichen – sich beispielsweise an der Bibel orientierenden – Unterricht entgegensetzen.

Dieses Polarisieren in zwei „Flügel“ nahm so dramatische Ausmaße an, daß in manchen Kreisen die Diskussion um die Frage, ob „Kinderrechte“ in unsere Verfassung Eingang finden sollen, zu regelrechten Schlachten ausarteten. Da aber beide Positionen, obschon scheinbar unvereinbar, dennoch auf demselben Resonanzkörper gründen, nämlich auf dem „Kind“, ist es besonders wichtig, sich von beiden Positionen deutlich zu distanzieren. Denn außerhalb dieser beiden Positionen, die gleichermaßen Sackgassen sind, gibt es eine klare andere, nämlich ethische Haltung, deren Fundament die Menschenrechte sein sollten, zuvörderst das nicht zufällig im Grundgesetz als erstes genannte Postulat: die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen. Ohne Wenn und Aber.

* * *

Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes, am 23. Mai 1949, hätte der deutsche Staat nicht nur die Chance, sondern geradezu die Verpflichtung gehabt, alles zu tun, was den postulierten Menschenrechten entspricht und alles zu unterlassen, was ihnen widerspricht. In diesem Sinne hiernach Auszüge aus der bemerkenswerten Ansprache, die der Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, in Bonn am 10. Januar 1985 (also zu Beginn des „Internationalen Jahres des Jugend“) gehalten hat:
… Die Bundesrepublik Deutschland läßt sich nach innen und nach außen von der unbedingten Verpflichtung leiten, Frieden zu schaffen und zu bewahren. Das deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen und unveränderlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit.

Die Bundesrepublik Deutschland strebt daher … einen Frieden an, … in dem alle Menschen sich der Rechte und Freiheit erfreuen, die zur Würde des Menschen und zu seiner freien Selbstbestimmung gehören.
Wer Frieden schaffen will, muß mit dem Frieden im eigenen Land beginnen: in einem Falle bedeutet dies bessere Sicherung der individuellen Menschenrechte. Im anderen Falle bedarf es besserer sozialer Gerechtigkeit…, der Überwindung nationaler, rassischer oder religiöser Vorurteile. Gemeinsam aber ist die Notwendigkeit, die Würde des Menschen zu achten.
Vertrauen erfordert Verzicht auf Gewalt und auf Androhung von Gewalt. … Für das Jahr 1985 wünschen wir, daß … dort, wo auch heute noch Gewalt angewendet wird, diese ein Ende nimmt. 6

Und? Haben die Erfahrungen nicht gezeigt, daß es andersherum lief: Der Staat – in seiner Dreigliederung als Gesetzgeber, als Ausführende und als Justiz – ergriff immer öfters immer drastischere Formen von offener oder subtiler Gewalt. Will heißen: statt auf Gewaltlosigkeit zu achten, wurde diese Gewalt gar intensiviert, legitimiert und sanktioniert – sodaß der Begriff „Staatsgewalt“ wörtlich genommen werden muß: Ja, der Staat selbst wurde zum Akteur der Gewalt, indem etwa staatliche Behörden völlig unverhohlen gegen junge Menschen übergriffig wurden und im Namen eines angeblichen staatlichen Wächteramts gewalttätig wurde.

Insbesondere Jugendämter stehen jetzt schon nicht zufällig im (Ver-) Ruf, bei Betroffenen viel Leid verursacht zu haben: und zwar, Gipfel der Hinterfotzigkeit, zur Wahrung des Kindeswohls, das selbstverständlich sie definieren. Zwei Beispiele: Verweigert sich ein junger Mensch seiner Zwangsbeschulung oder wird weshalb auch immer auffällig, werden die von Amtswegen angerufenen Jugendämter (§ 1666 BGB!) Gründe finden, diese Ungehörigkeit der als „erziehungsunfähig“ dargestellten Familie zuzuschreiben, wodurch „der Bösewicht“, „der Renitente“ alsbald „kassiert“ werden kann; auf die Justiz ist da nur selten Verlaß! Wurde ein junger Mensch – aus wahrlich triftigen Gründen – nicht geimpft, werden Behörden alsbald eingreifen können, um den jungen Menschen zu „retten“… Was wie eine schlechte Karikatur daherzukommen scheint, ist leider bereits Wirklichkeit. Ist die Vorstellung nicht unerträglich, solche Behörden hätten durch neue Befugnisse noch mehr Macht?

Betrachten wir zwei Situationen: Zunächst die Position eines jungen Menschen, der unter der ihm zugefügten Be- oder Mißhandlung leidet. Wäre es nicht die selbstverständliche erste Adresse gewesen, daß er sich an eine neutrale Instanz wenden kann und soll, die ihm in der Klärung seines Unwohlseins beisteht? die ihn aktiv unterstützt? Was auch immer dieses Unwohlsein bewirkt haben mag, ob familiäre Nöte oder schulische Probleme oder anderes: Hätte nicht die Öffentliche Hand diese neutrale Instanz sein müssen, indem sie sich streng an die in unserer Verfassung postulierten Gebote zu halten haben und dazu zu verpflichten sind, das würdevolle Subjekt Mensch bedingungslos zu respektieren? Leider wird der betroffene junge Mensch feststellen müssen, daß dem Staat in Gestalt der Schulbehörden, der Jugendämter, der Polizei, der Justiz kein Vertrauen geschenkt werden darf – im Gegenteil, dies ist gefährlich!

Was geschieht, zweite Situation, ein betroffener junger Mensch würde sich seiner Beschulung verweigern. Bisher wurden jene Mütter und Väter, die ihren Nachwuchs nicht auf dem Altar einer obsoleten Schulideologie zu opfern bereit waren, immer mit der vollen Staatsgewalt konfrontiert, die ihre Aufgabe darin sah, diesen „Renitenten“ mit allen Mitteln zur Schule zu zwingen.
Wofür sollte solche Zwangsernährung gut sein? Ist nicht der staatlich eingesetzte Zwang ein Indiz dafür, daß seine Institution Schule so gut, so nützlich, so interessant nicht ist? Wäre sie es, würde doch jeder Mensch selbstverständlich, gar wonniglich sich der Potenz widmen, frei sich zu bilden, so wie es über Jahrtausende erfolgte und für die menschliche Gattung prägend und kennzeichnend. Stattdessen versündigt sich unser sich demokratisch gebende Staat – wider besseres Wissen – an den jungen Generationen…

* * *

Gegen die Ergänzung des Art. 6 unserer Verfassung erreichte die o.g. Petition an den Bundestag in den letzten Tagen der Zeichnungsfrist mehr als 75.000 Unterschriften. Im Gegensatz zu gewissen Kreisen glaube ich kaum, daß all die Menschen, die sich hier eingebracht haben, nur aus dem rechten Spektrum kamen und nur die (spieß)bürgerliche Familienidylle vor dem Zugriff der staatlichen Behörden retten wollten. Vielmehr wage ich zu hoffen, daß zahlreiche Menschen sich – so wie ich – da eingebracht haben, um ein kostbares Fundament unseres Lebens, unser Grundgesetz, zu schützen vor der wahnhaften Zwangsbeglückung, die uns bestimmte Ideologen gern aufdrängen würden. Nochmals: Da es dieser Ergänzung nicht bedarf, um die Menschenrechte zu schützen, ist zu fragen, was hinter diesem Ansinnen steht – leider zeigt die Erfahrung, daß hier nichts Gutes zu erwarten ist, im Gegenteil!

Allerdings: Mit einer Petition an den Bundestag ist nur ein erster Schritt vollbracht, der unsere Abgeordneten zwingt, sich dieser Fragestellung erneut zu widmen. Es wird allerdings just dann, wenn diese erneute Behandlung stattfindet, wichtig sein, klar und unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen, worum es geht: einzig und allein um das Subjekt und um seine Würde, seine Selbstbestimmtheit, so wie es in unserer Verfassung bereits postuliert wird. Bedingungslos. Und daher jenseits aller ideologischen Polarisierungen und Spaltungsversuche.

 

 QUELLEN UND ANMERKUNGEN

(1) Publiziert als Sonderdruck der Zeitschrift „publikforum“ und u.a. nachzulesen unter: https://ich-bin-so-frei.blogspot.com/p/der-kinder-doppelbeschluss.html

(2) Jost von Wistinghausen, Selbstbestimmte Bildungswege aus Sicht der Rechtspraxis, in: Matthias Kern (Hg): Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung? (tologo academics), Leipzig 2018, hier insb. S. 31/32: „Es verwundert deshalb nicht, dass ich Verfahrensbeistände erlebt habe, die nach einem langen Gespräch mit dem jungen Menschen und der Feststellung, dass dieser ganz klar und unmissverständlich formuliert, wie die Bildung abläuft, und trotz allen Nachweisen, dass diese selbstbestimmte Bildung funktioniert, dennoch vor Gericht genau das Gegenteil vom ‘objektiven Interesse’ des Betroffenen behauptet haben.“

(3) zit. in Martin Stoppel, Das Kindeswohl im Spannungsverhältnis selbstbestimmter Bildung und Schulpflicht, in Matthias Kern (Hg.), Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht, (tologo academics), Leipzig 2016, hier S. 111

(4) Richard Farson, Menschenrechte für Kinder – die letzte Minderheit (Englisch 1974), München 1975

(5) Für die Weltgesundheitsorganisation WHO ist eine Rate an Not-Kaiserschnitten um die 5% anzusiedeln.

(6) Zitiert in: Bertrand Stern, Schluß mit Schule! – das Menschenrecht, sich frei zu bilden, Leipzig 2006 S.96 f.

 

Mensch oder Nicht-Mensch: das ist die Frage!2024-06-13T19:05:55+02:00

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VOM FREI SICH BILDEN IN DER SCHWEIZ UND DARÜBER HINAUS

2024-06-29T11:17:04+02:00
Als ich im Jahre 1989 begann, mich aufgrund meiner Begegnung mit André und Eléonore Stern dem Phänomen «Bildung ohne Schule» zu widmen, wie ich es damals nannte1, und ich daraufhin meine Fühler ausstreckte, um das Feld meiner Forschungsarbeit auf weitere Protagonisten auszuweiten, war es mir vergönnt, auch einer Familie in der Schweiz zu begegnen, deren Tochter und Söhne nicht beschult wurden. Es war damals auf weiter Flur die einzige Familie, die ich aufzuspüren vermochte – mit einer Ausnahme: der Familie Schmidheiny.

 

Der Vater Rudolf Schmidheiny schreibt rückblickend in seinem 2023 publizierten Buch:

«Zum Entsetzen der Lehrerschaft und unseres Bekanntenkreises gingen unsere Kinder ab 1990 zu Hause zur Schule. – Wir hatten für unsere Familie die Schulalternative ‘Bildung zu Hause’ ins Leben gerufen. Nicht, weil wir Eltern so etwas gesucht hätten, sondern weil wir es nicht weiter ertragen konnten und auch nicht tatenlos zusehen wollten, wie unsere eigenen Kinder durch den Schulbetrieb entfremdet, gegen uns aufgewiegelt und dem Elternwillen entzogen wurden. Nein, es waren weder die propagierte Evolutionstheorie noch der unterschwellige Atheismus, nicht die sozialistischen Parolen und auch nicht der Sexualkundeunterricht, es war nicht die Zwangssozialisation durch Herdenführer, es war nicht, weil unsere Kinder zuweilen bedrängt und drangsaliert, dem Gruppendruck ausgesetzt worden waren. Auch die sehr unerfreulichen Auseinandersetzungen innerhalb der Schulbehörde, die zu keinem Ziel führten, waren es nicht, die uns zur Abmeldung von der Volksschule leiteten. Es war die inzwischen gewonnene Überzeugung, dass Kinder den Eltern gehören und nicht dem Staat. Wir sahen es als unsere Pflicht, die Kinder vor ideologischen Übergriffen durch Zwangsbeschulung zu schützen.»2

Heute umfasst der von ihm 1998 gegründete Verein «Bildung zu Hause Schweiz» mehr als tausend Familien, Tendenz steigend. 3

Es schien mir von Anfang an evident, dass die Ausrichtung und das Ansinnen von Rudolf Schmidheiny völlig anderer Natur waren, als das, wofür ich mich so brennend interessierte, obwohl Bezeichnungen wie «Bildung zu Hause» und «Bildung ohne Schule» auf den ersten Blick Analogien suggerieren mögen oder als identisch wahrgenommen werden können. Gerade auch von Behördenseiten und in gesetzlichen Regelwerken werden sie in den gleichen Topf geworfen; eine sprachliche Ausdifferenzierung, geschweige denn ein differenziertes Bewusstsein für die feinen, aber wesentlichen Unterschiede sind schlicht inexistent. Es ist die Rede von häuslichem Unterricht, Privat- oder Heimunterricht. 4

Wenn ich den «unbeschulten Menschen» ins Zentrum rücke, so meine ich das wortwörtlich. Es war nicht die Überzeugung, dass Söhne und Töchter genau so gut, wenn nicht besser, zuhause unterrichtet und beschult werden könnten, die mich faszinierte und in mir das heilige Feuer des forschenden Geistes weckte, sondern die intuitive Vorahnung, dass der Mensch und das, was er als sein Leben erfahren darf, an sich von so genialer Beschaffenheit ist, dass es keiner pädagogischen Zuwendung bedarf, damit er ein gelingendes Leben führen kann.

Von Anfang an war ich von der Vorstellung fasziniert, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich aus eigenem Antrieb die Welt anzueignen und dabei zu einer kompetenten Persönlichkeit heranwächst, ja eigentlich zeitlebens schon kompetent ist, vorausgesetzt er wird in seiner Kompetenz auch gesehen und bestärkt, er kann in einer wohlwollenden, unterstützenden Atmosphäre sich entfalten und gedeihen.

Während meiner Kindheit spürte ich in mir diese unbändige Energie, wenn ich meinen eigenen Interessen folgen konnte, diese Spielfreude, die mich auf meinen Entdeckungsreisen antrieb, mein innerer Drang, das Leben zu erfahren und zu erkennen. Es war mir selbstverständlich, dass ich, womit ich mich auch immer beschäftigte, mir Wissen und Können aneignen konnte, um meinen Wissensdurst zu stillen und meine Projekte und Träume zu realisieren, ohne dass ich dafür zur Schule gehen musste.

Erfüllt von dieser Energie fuhr ich 1991 nach Paris, wo ich meine Studien auf weitere 6 Familien, allesamt in Frankreich lebend, ausweitete. Dabei hatte ich kein Interesse daran zu erforschen, wie Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten; vielmehr war es mein Ansinnen, für mich und andere sichtbar und nachvollziehbar zu machen, wie Menschen aus eigenem Antrieb in die Welt hineinwachsen, selbstbestimmt und frei sich bildend. So konzentrierte ich mich auf die Lebens- und Erfahrungsprozesse von acht Familien, die es als Selbstverständlichkeit betrachteten, ihren Nachwuchs auf ihrer Lebensreise als vollgültige Wesen respektvoll zu unterstützen und zu begleiten. 1999 erschien mein Buch «Denn mein Leben ist Lernen. Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen»5, das ich im Jahre 2023 neu mit dem Untertitel «Wie Menschen frei sich bilden»6 auflegte.

Seit Beginn meiner Forschungstätigkeit sind 35 Jahre vergangen. Welches Bild zeigt sich heute in der Schweiz?

Gemäss einer Umfrage der «Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren» aus dem Schuljahr 2022/23 werden aktuell in der Schweiz rund 4136 Kinder und Jugendliche zu Hause unterrichtet.7 Diese Zahl hat sich innerhalb der letzten vier Jahre verdoppelt. Knapp 80 % davon leben in vier (von 26) Kantonen: nämlich in Bern, Waadt, Zürich und Aargau. Dabei hat sich der Zuwachs alleine im Kanton Bern in den letzten 10 Jahren von 196 (im Jahre 12/13) auf 1263 (22/23) mehr als versechsfacht.

Diagramm Homeschooling Schweiz EDK 22-23

Im Kanton Tessin, Uri und Zug wird «Homeschooling» nicht bewilligt. Auch der Kanton Basel-Stadt gehört zu den Kantonen mit absoluter Restriktion; er bewilligte lediglich ein Gesuch auf Homeschooling unter Angabe starker körperlicher Einschränkungen8.
2019 ist eine Mutter aus dem Kanton Basel-Stadt bis vor das Bundesgericht gezogen, die erklärte, dass das lokale Bildungssystem nicht gut genug sei für ihr hochbegabtes Kind. Das Bundesgericht entschied, dass es in der Schweiz keinen verfassungsmässigen Anspruch auf Heimunterricht gebe.9
Im Kanton St. Gallen, der bislang eine Nulltoleranz geltend machte, in dem er die Sozialisation der Kinder und Jugendlichen monierte, gelang es letztes Jahr einem engagierten Elternverein aufgrund ihrer Beschwerde mit verwaltungsgerichtlichem Beschluss das ausserschulische Lernen in kleinen Lerngruppen durchzusetzen.10

Es ist für mich schwierig abzuschätzen, wie hoch die Zahl der jungen Menschen ist, die in der Schweiz «frei sich bilden». Aber es gibt sie. Weit häufiger jedoch sind jene Familien, in denen häuslicher Unterricht praktiziert wird.

Voraussetzung ist zudem in den meisten Kantonen ein Lehrdiplom; wenn Eltern darüber nicht selbst verfügen, sind sie aufgefordert, sich in ihrer Bildungsverantwortung von einer Person mit entsprechender Zertifizierung vertreten und begleiten zu lassen.

Grundsätzlich gilt es zu konstatieren, dass das Feld, das unter dem Begriff «Homeschooling» subsumiert wird, sehr bunt ist und viele Schattierungen aufweist.

Im Kanton Schaffhausen – einer der wenigen Kantone, in denen es möglich war, Heimunterricht ohne pädagogische Zertifizierung zu praktizieren – kam es im Jahre 2023 zu einer Revision des Schulgesetzes. Die Vorlage kam vor das Stimmvolk, das entschied, dass neuerdings ein Lehrdiplom als Massgabe für den häuslichen Unterricht vorzuweisen ist.11

Es ist zu beobachten, dass sich von Seiten der Behörden eine allgemeine Tendenz zu einer zunehmenden «Pädagogisierung» und auch zunehmend mehr Restriktion abzeichnet. Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) titelte beispielsweise im Jahre 2022 in seiner Berichtserstattung: «Zuviel Homeschooling: Kanton Bern zieht Schraube an»12 und thematisierte die von Bildungspolitikern und -forschern geäusserten «Sorgen um Bildungsqualität».

Auflagen werden dahingehend verschärft, dass von Eltern vermehrt Unterrichtsplanungen und Lernberichte eingefordert werden. Es ist eine Tendenz, die nicht nur in der Schweiz zu beobachten ist, sondern auch in den Nachbarländern Österreich oder Frankreich, wo bis zu den jeweiligen Änderungen der Gesetzeslage über Jahrzehnte ein deutlich liberaleres Klima herrschte. Einblicke in die Praxis in anderen Ländern, Erfahrungsberichte und geschichtliche Hintergründe gewährt die höchst spannende Jubiläumsausgabe Heft 100 von «die freilerner».13

Während die Familie aus der Schweiz – wohnhaft im Kanton Bern – anfangs der 90er-Jahre von Behördenseite mit Wohlwollen und offenkundigem Interesse begleitet wurde, macht heute das staatlich subventionierte Radio öffentlich Stimmung: «Schul- und Unterrichtsforscherin Tina Hascher von der Universität Bern wundert sich, dass der Kanton beim Homeschooling nicht längst die Schrauben angezogen hat: ‘Der Kanton Bern macht das, was er darf und auch muss. Nämlich die Qualität zu sichern.’ Die Instrumente dafür stünden schon längst bereit. Für die Bildungsforscherin ist klar: Wenn Eltern die Bildungsqualität im Heimunterricht nicht sicherstellen können, dann müssen ihre Kinder wieder zurück in die Schule.»14

SRF berichtet kämpferisch, die Schrauben würden auch bei den pädagogisch ausgebildeten Personen angezogen, die die Eltern beim Homeschooling bereits heute anleiteten. Diese müssten neu zwingend mit dem Lehrplan 21 vertraut sein und zitiert den Amtsvorsteher Erwin Sommer: «Das Ziel ist, dass die Kinder jederzeit wieder in die Volksschule integriert werden können».15

Es gibt auch positive Berichterstattung. Im Jahre 2023 brachte SRF eine Reportage, in der sie Stefan Schönberger, Dozent an der Pädagogischen Hochschule FHNW, folgendermassen zitiert: «Es gibt Hinweise darauf, dass Homeschool-Kinder gut auf die Erwachsenenwelt vorbereitet sind.»16

Die Mehrzahl der Familien, deren Anliegen es ist, ihre Töchter und Söhne zu unterstützen und zu begleiten in ihrem Naturrecht, frei sich zu bilden, suchen meist den Dialog in der Ansprache zu den Behörden. Dies kann, je nach eigener Konstitution und jener des Menschen, der seine Rolle als «Inspektor» wahrnimmt, zum konstruktiven Zwiegespräch oder zum Eiertanz werden.

Auch wenn das Gros der Inspektoren als wohlwollend und konstruktiv rezipiert wird, variieren auch hier Erfahrung und Wahrnehmung.

Es sind unterschiedlichste Faktoren, die dieses Setting von staatlicher Kontrolle, bestimmen. Ich erinnere mich an den Besuch des Inspektors: mein frei sich bildender Sohn wäre in der Welt der Schule damals in der dritten Klasse gewesen. Der Inspektor zeigte sich beeindruckt von der Aufrichtigkeit und Hingabe, mit der mein Sohn seine «Prüfungsaufgabe» anging. Es war ein sympathisches, doch leicht schulmeisterliches Szenario. Der Inspektor verstrickte meinen Sohn in ein anregendes Gespräch, in dem er von seinen Freunden, seinen Vorlieben und all dem, was ihn sonst noch bewegt, erzählte. Dann legte er ihm einen ausgedruckten Text vor, der seinem Jahrgangsniveau entsprach, zum Thema Fasnacht – zu gut Deutsch Karneval –, das gerade im Äther lag. Ich hatte meinen Sohn nicht eine einzige Sekunde seines Lebens im Lesenlernen unterrichtet; er las zwar nicht besonders schnell, aber er verstand das, was er las und hatte Freude daran, was in einem engagierten Dialog mit dem Inspektor zum Ausdruck kam.

Je nach Veranlagung und Persönlichkeit des «Probanden» hätte dieses Szenario auch in einen Seiltanz oder sogar in ein Seilziehen münden können; mit Remo Largo gesprochen, der in Longitudinalstudien17 äusserst fundiert aufzeichnete und auswertete, wie heterogen Entwicklungsprozesse verlaufen, sind Menschen keine Einheitswesen, die sich im Gleichschritt in ihren Anlagen entfalten.

Nicht jeder junge Mensch liest zwingend im Alter von 9 Jahren, wenn er nicht einer systematischen Beschulung unterzogen wird, was selbst dann nicht gegeben ist, wenn er die öffentliche Schule besuchte.

Der Druck, der daraus erwachsen kann, reicht von subtil bis massiv und wirkt durch meist alljährlich wiederkehrende Kontrollbesuche permanent. Manche Eltern, und auch diejenigen Wesen, die es zu begutachten gilt, können durchaus sich in belastenden Situationen wiederfinden, die sich verschärfen können. Manche fügen sich dem Diktat, dass Kinder in Jahrgangsstufen einzuteilen seien und staatlich definierte Kompetenzen auszubilden hätten. Andere kapitulieren, suchen sich Alternativschulen oder bilden Lerngruppen mit Pädagogen. Offener Widerstand gibt es kaum. Die Schweizer Mentalität ist sehr auf Kompromiss und Konsens getrimmt

Anders Ruedi Schmidheiny; er vertritt  – mit derselben kämpferischen Energie wie der Amtsvorsteher und die Bildungsforscherin – die auf den ersten Blick naheliegende These: «Kinder gehören den Eltern, nicht dem Staat»; was er im gleichnamigen Buch auf über 400 Seiten zu untermauern versucht.

Kann dies eine vernünftige Lösung sein?

Ein Gerangel darum, wem die Vorherrschaft um das Wesen gebührt, das völlig infantilisiert in unserer Gesellschaft «Kind» genannt wird?

Nein, es darf nicht um einen Machtkampf gehen in der Frage darum, wem die Entscheidungshoheit über anderes Leben obliegt. Auch junge Menschen gehören sich selbst.

Konkreter noch wurde Olaf Scholz, der 2002 das Ziel seiner Politik, die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ zu erlangen, deutlich formuliert hat.

Im übrigen jener Olaf Scholz, der heute Bundeskanzler ist!!!

Wenn wir nördlich über den Tellerrand der Schweizer Grenze schauen, wo es klimatisch deutlich rauer ist, bemerken wir – wohl aus der Not gedrungen – auch deutlich mehr Willen zur Konfrontation. In einer kürzlich von mir herausgegebenen Dokumentation mit dem Titel «Thüringen: Vorreiterland der Bildungsfreiheit?» wird nicht nur deutlich, wie durch Bürger angestossene politische Prozesse (beispielsweise die von der Rechtsanwältin Dr. Katja Senkel an den Thüringischen Landtag gerichtete Petition, die immerhin bei mehr als 4200 Menschen Unterstützung fand!) in den Mühlen parlamentarischer Strukturen nonchalant zerrieben werden, sondern auch, dass Gesicht-Zeigen und eine klare ethische Haltung von Erfolg gekrönt sein können. Wenn junge Menschen, begleitet von ihren Eltern, auf ihre Menschenrechte pochen, selbst – oder gerade – in einem Land mit restriktiver Bildungsbürokratie, doch mit freiheitlich demokratischer Grundordnung, dann kann die Judikative gar nicht anders, als das Wesen in seiner Subjekthaftigkeit zu bestätigen, was mit mittlerweile zahlreichen Gerichtsbeschlüssen in dieser Schrift dokumentiert ist.18

Franziska Klinkigt, systemische Psychologin und Menschenrechtsaktivistin in Deutschland, bringt es auf den Punkt, in dem sie schreibt: «Selbst wenn im Kampf zwischen ‘Vater Staat’ und ‘Mutter Familie’ nicht über die jeweiligen Philosophien, Methoden und Gründe diskutiert wird, so geht es dabei doch letztendlich um die Frage, wer von beiden es besser macht mit dem ‘Zögling’ – und im besten Falle nur darum, wie sie gemeinsam am erfolgreichsten auf ihre Erziehungs- und Bildungsobjekt einwirken können … Das Recht des jungen Menschen, also der Person gilt es zu schützen, nicht das Recht derer, die über sie bestimmen wollen!»19 Sie stellt die alles entscheidende Frage: «Ist es nicht ein gewaltiger Unterschied, ob Eltern auf ihrem eigenen Recht als Eltern pochen oder ob sie sich für den Schutz der Grundrechte ihrer Töchter und Söhne einsetzen?» 20

Wir täten gut daran, in unseren Bestrebungen, gute Bedingungen für die heranwachsenden Generationen zu gestalten, den Blick auf den neuralgischen Punkt zu werfen. Nämlich darauf, dass Menschen keine Objekte sind, sondern Subjekte.

Die Haltung, nicht zu tun, sondern zu sein, scheint so nicht in diese Welt zu passen. Das, was es wirklich braucht auf dieser Welt ist so trivial, dass wir nicht einmal daran zu denken wagen; lieber bewegen wir uns in geistigen und gesellschaftlichen Systemen, in denen wir uns gegenseitig in unserer Defizienz bestärken. Das, wovon ich spreche, ist die Essenz, sich gegenseitig zu würdigen, die nicht nur in Bezug auf Bildung, sondern in jedem Bereich unseres Lebens der Geltung bedarf, sei es die Gesundheit21 oder das Dilemma der Armut22.

Es wird höchste Zeit, uns daran zu erinnern, dass das Leben weit mehr ist, als sich Technokraten, Politiker oder Pädagogen vorstellen können; erinnern wir uns an die weisen Worte von Khalil Gibran:

«Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Es sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, doch nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Hause von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.»23

 

 

Quellen und Anmerkungen:

Dieser Beitrag erschien in gedruckter Form in der Zeitschrift “die freilerner”, Heft 101 – Freilernen weltweit  – Teil 2, Ausgabe 2/2024
https://freilerner.de/produkt/heft-101-freilernen-weltweit-teil-2/

(1) 1991 wurde meine Forschungsarbeit, die ich unter dem Namen «Bildung ohne Schule» im Rahmen von «Schweizer Jugend forscht» einreichte, an der Heureka, der nationalen Forschungsausstellung anlässlich der 700-Jahr-Feier der Schweiz, ausgezeichnet.

(2) Ruedi Schmidheiny: Kinder gehören den Eltern – nicht dem Staat! Natürliche Elternschaft vs. Staatlicher Schulzwang, BoD 2023, S. 11

(5) Olivier Keller: Denn mein Leben ist Lernen. Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen, Mit Kindern wachsen Verlag, Freiamt 1999

(6) Olivier Keller: Denn mein Leben ist Lernen. Wie Menschen frei sich bilden, proGenia Edition, Rorschacherberg 2023

(7) EDK/IDES-Kantonsumfrage, Stand: Schuljahr 2022-23

(8) Ebenda

(13) die freilerner, Zeitschrift für selbstbestimmtes Leben und Lernen: Freilernen weltweit. Teil 1, Heft 100, Ausgabe Eins 2024

(15) Ebenda

(18) Olivier Keller (Hrsg.): Thüringen: Vorreiter-Land der Bildungsfreiheit? Anhörung vor dem Petitionsausschuss, proGenia Edition, Rorschacherberg 2024

(19) Franziska Klinkigt/Bertrand Stern (Hrsg.): Versuche zur Verteidigung der Freiheit. Diskussionen zur «Bildungspolitik», 2. Auflage Ulm 2013, Verlag Klemm+Oelschläger, S. 24

(20) Ebenda: S. 88

(22) Siehe Artikel von Bertrand Stern: https://www.manova.news/artikel/armut-oder-elend

(23) Kahlil Gibran: Der Prophet, Walter-Verlag, Olten, 26. Auflage 1991, S.32

 

VOM FREI SICH BILDEN IN DER SCHWEIZ UND DARÜBER HINAUS2024-06-29T11:17:04+02:00

DER KÖNIGSWEG ZUR HEILUNG

2024-06-29T11:10:44+02:00
Das ganze Lob auf den Fortschritt, den als Mantra verbreiteten Glauben an eine Verbesserung durch Technologie und Innovation, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Welt dadurch nicht etwa gesünder geworden wäre. Ganz im Gegenteil: Betrachten wir die Statistiken, können wir deutlich erkennen, dass Krankheit ein Ausdruck ist, der sich auf allen Ebenen und beinahe in allen Bereichen des Lebens zusehends verschärft hat. Paradoxerweise verzeichnen wir gerade bei den sogenannten Zivilisationskrankheiten einen stetigen, zum Teil sogar massiven Zuwachs. Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen sowie ein ganzer Kanon an psychischen Leiden, allen voran Erschöpfungssyndrome wie Burnout und Depressionen, haben beispiellos zugenommen.

 

Die gute Nachricht ist: Da, wo der Leidensdruck wächst, wächst auch der Wille zum Wandel. Spielte nicht ein verhängnisvoller Teufelskreis von Normopathie 1 und transgenerationaler Übertragung bestehender Traumata 2 mit – Phänomene eines kollektiven Unbewusstseins –, wir würden wohl in einer gesunden Welt leben. Weshalb ich das «Frei-sich- Bilden» als Königsweg bezeichne und warum sich dieser als Katalysator des Heilwerdens erweist, werde ich im Folgenden darlegen.

In der Tat kenne ich ein erhebliches Spektrum des aufgezählten Krankheitskanons durch eigene Erfahrung oder durch Beziehung zu Familienangehörigen.
Geboren 1971, wuchs ich in einer Zeit des prosperierenden Aufbruchs im Kielwasser der 68er-Bewegung auf. Meine Eltern waren liebend, jung und engagiert, meine Kindheit geprägt von einem breiten Feld an Möglichkeiten und verantwortungsvoller Mitarbeit im elterlichen Gastronomiebetrieb.

Ich trage viele goldene Momente in meiner Erinnerung; es bleiben mir aber auch viele Eindrücke, in denen sich mir die Welt der Erwachsenen voller Widersprüche und Ungereimtheiten komplett unverständlich zeigte und mich eingehend beschäftigte, ja zutiefst traurig stimmte: Ich fühlte mich wie der kleine Prinz auf einem fremden Planeten, der sich über die großen Leute wunderte. Schon früh begann mich die Frage umzutreiben: Was ist gesund und was ist pathologisch in dieser großen Welt und in meinem eigenen Leben, in dessen Verlauf ich mit unterschiedlichsten Krankheitsphänomenen konfrontiert wurde? Als Säugling wäre ich beinahe am Kindstod gestorben; meine ganze Kindheit über litt ich immer wieder an starken Ohren- und Halsschmerzen; meine Mandeln und mein Blinddarm entzündeten sich und wurden entfernt. Später, in meiner Adoleszenz, reagierte ich mit Angststörungen. Ganz zu schweigen von einer gewissen Melancholie, die mich, wie mir scheint, von meiner Kindheit bis weit ins Erwachsenenalter begleitete. Gegen Ende meiner Zwanzigerjahre wurde ich konfrontiert mit Herzrhythmusstörungen, Burnout-Symptomen, wiederkehrenden Depressionen, psychotischen und manischen Zuständen; ich bekam schließlich einen ganzen Katalog an psychiatrischen Diagnosen verpasst – von ADHS über Bipolarität bis zu Asperger.

Ja, es gab sie, die markanten Schicksalsschläge, wie den Unfalltod meines jüngeren Bruders oder einen Hausbrand, bei dem ich völlig entwurzelt wurde und fast mein ganzes Hab und Gut verlor. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle schicksalhafte Ereignisse und Einflüsse meines Lebens zu beschreiben, die in ihrer Ursächlichkeit dazu beitrugen, dass ich verschiedenste Symptome entwickelte. Manches vermochte ich erst im fortgeschrittenen Alter in seiner ganzen Tragweite zu erfassen wie beispielsweise die Auswirkungen einer posttraumatischen Belastungsstörung meiner Mutter, die sich im Alter von knapp 12 Monaten schwerste Verbrennungen zuzog und daran beinahe gestorben wäre. Das Feld ist breit und reicht über Missbrauchserfahrungen unterschiedlichster Art bis zu Verstrickungen, die an Episoden aus der griechischen Mythologie erinnern.

Auf der Suche nach Linderung und Erkenntnis war ich zeit meines Lebens daran interessiert, Zusammenhänge und Ursachen zu erforschen. Ich wollte verstehen, den Dingen auf den Grund gehen.

Gegen eine Behandlung mit Medikamenten wehrte ich mich dezidiert und kategorisch – bereits in meiner Kindheit. Der Erzählung meiner Mutter gemäß war es unmöglich, mir als Säugling ein Zäpfchen zu verabreichen, weil ich es gleich wieder ausschied. Jedes Mal, wenn es mir gelang, etwas aufzudecken oder zu erhellen, fühlte ich, wie ich meinem Ursprung näherkam, auch wenn diese Momente immer wieder sehr schmerzhaft waren und ich sogar phasenweise psychotisch wurde.

Bis zu einem bestimmten Punkt war es mir möglich, mein Leben gelingend zu gestalten und Träume zu realisieren, wie beispielsweise ein Musikerleben mit berauschenden Konzerttourneen oder die Veröffentlichung meines Buches «Denn mein Leben ist Lernen» im Jahre 1999.

Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem «unbeschulten Menschen» tauchte ich ein in ein Meer tiefgründiger Impulse für einen umfassenderen Blick auf das, was Gesundheit und Lebendigkeit bedeutet.

Es war mir stets bewusst, dass ich mich auf einer Selbstheilungsreise befand, dass ich dadurch ungeahnte und tiefe Einblicke in die menschliche Seele und unsere Körperlichkeit gewinnen durfte. Und dies ist wohl der alles entscheidende Punkt: Ich habe diese Phasen und Zustände nicht als Anlass genommen, mich damit zu identifizieren. Oder mit anderen Worten: Es war mir stets klar, ich war nicht die Diagnose.

Es geht nicht darum, damit zu kokettieren oder mich etwa beispielhaft dafür zu rühmen, dass es mir trotz aller Wehen gelungen ist, mehr und mehr heil zu werden. Schon gar nicht geht es darum, mich als jemanden darzustellen, der vom Leben besonders gebeutelt wurde. Wie eingangs erwähnt, und darin liegt die Tragik, gehöre ich nicht etwa zu einer Minderheit von Menschen, die solche Krankheitschroniken schreiben. Die meisten von uns, wenn nicht alle, sind oder werden aufgerufen, sich im Verlaufe ihres Lebens mit Heilungsprozessen zu beschäftigen, wie auch immer diese geartet sind.

Es geht mir darum, durch mein Sein, mein «So sein wie ich bin», Impulse zu setzen und eine Lanze zu brechen für das Menschliche, das Gesunde, das Erhellende, denn wie Krishnamurti sagte: «Es ist kein Anzeichen von seelischer Gesundheit sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft anpassen zu können.» Wir brauchen uns nicht dafür zu schämen, dass wir krank werden. Es ist ein Zeichen von Gesundheit, ein Streben nach Heilwerden.

Heilwerden bedeutet Versöhnung und Entspannung, aber auch das Zulassen von Verletzlichkeit, denn ohne Verletzlichkeit gibt es keine Lebendigkeit.
Gesundheit oder Krankheit, aus welcher Warte wir auch schauen, ist kein Zustand, sondern ein Prozess, bei dem es darum geht, stets ins Gleichgewicht zu streben.

Heil zu werden bedeutet aber auch, sich seiner Vergänglichkeit und gleichzeitig seiner Unendlichkeit bewusst zu werden. Es ist das Erkennen, dass ich, jeder Einzelne, wir alle so wichtig wie ein Körnchen Sternenstaub sind, nicht mehr und nicht weniger.

Unsere Welt aber ist von Maßlosigkeit, Konkurrenzkampf und Gier durchdrungen. Ihre Heilsversprechen sind in unsägliche Narrative gekleidet, zum Beispiel das Narrativ des «Homo oeconomicus», das uns zu einer rücksichtslosen Ausbeutung jeglicher Ressourcen geführt hat, oder das Narrativ des «Homo educandus», das längst nicht nur junge Menschen zu Unmündigen degradiert. Die Kombination von beiden ergibt einen toxischen Nährboden für krankhafte Machtexzesse in Politik und Wirtschaft, Religion und Kultur.

Und diese scheinen omnipräsent; wir sind geradezu umgarnt von Strukturen, die vordergründig normal scheinen, bei genauerer Betrachtung aber von Gewalt durchdrungen sind – strukturelle Gewalt 3, so weit das Auge reicht.

Wir denken vielleicht, Pathologisches entstehe vornehmlich durch extreme Stressbelastungen wie brachiale Gewalt, Missbrauch und andere Grenzerfahrungen. Doch es fängt damit an, dass die Haltung, andere als Objekte zu behandeln, in die Norm geschrieben ist, sie ist Teil unserer systemischen Struktur geworden. Sie ist systemimmanent.

Sie zeigt sich in einer kollektiven Erfahrung von Zwang zum Funktionieren, von Sinnlosigkeit, von Ohnmacht, vom Gefühl, ausgeliefert zu sein, und hierbei lediglich Bedingungen und Erwartungen erfüllen, sich ständig bewähren zu müssen.

In deren Folge ergeben sich psychische Zustände wie das Gefühl, nicht gesehen zu werden; das Gefühl, getrennt und ausgegrenzt zu sein; das Gefühl, nicht zu genügen, etwas zu verlieren oder entbehren zu müssen; die Angst vor Bedrohung, vor den Konsequenzen eines allfälligen Widerstandes, Rückzug, Einsamkeit, Resignation …
Dies sind Verarbeitungsstrategien vulnerabler, sensitiver Seelen; noch weit häufiger sind Strategien wie die Zähne zusammenbeißen, hart und ignorant werden.
Über allem steht der Versuch, sich taub zu machen.

Die ganz große Gesundheitskrise besteht darin, dass viele zivilisierte Menschen den Zugang zu ihren tieferen Gefühlsschichten und genuinen Gedankenwelten aufgegeben haben und sich stattdessen von Indoktriniertem leiten lassen.

Arno Gruen spricht vom «Wahnsinn der Normalität»4, Erich Fromm von der «Pathologie der Normalität»5.
Als Pionier widmete sich Fromm systematisch den Grundzügen einer normopathischen Gesellschaft. In einem Interview aus dem Jahre 1977 äußerte er sich wie folgt:

«Die Normalsten sind die Kränksten, und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmt. Glücklich, der ein Symptom hat.»6

Es klingt vielleicht vermessen, aber er bringt damit zum Ausdruck, was ich in meiner Kindheit intuitiv wahrgenommen hatte, eine Wahrnehmung, die mir letztlich die Möglichkeit eröffnete, bei mir zu bleiben. Des Weiteren führt Fromm aus:

«Sehr viele Menschen, das heißt die Normalen, die sind so angepasst, die haben so alles, was ihr Eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, so Instrument, so roboterhaft geworden, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden; das heißt: ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Hass, das ist schon so verdrängt oder sogar so verkümmert, dass sie das Bild einer chronischen, leichten Schizophrenie bilden.»

Einiges spricht dafür, dass auch rein physische Krankheit sich letztlich auf Psychisches zurückführen lässt. Egal, ob psychisch, psychosomatisch oder «nur» somatisch – wo Krankheit chronisch wird, verlässt das Kranke das Gesunde. Da wird Krankheit zum ernst zu nehmenden Widersacher des Lebendigen.

Die meisten unter uns tragen Verwundungen in sich. Sie gehören zum Leben. Es sind beileibe nicht nur Schicksalsschläge verursacht durch Naturgewalten oder den Tod eines geliebten Menschen, sondern auch die Verletzungen von Übergriffigkeit und Demütigung, Kränkung und Herabwürdigung – und man könnte meinen, in dieser Welt seien sie normal und gehörten zum Leben wie die Luft zum Atmen.

Das Vermächtnis einer schwarzen Pädagogik, wie sie uns Katharina Rutschky 7
vor Augen führte, tragen viele von uns noch immer in ihren Adern. Im Alter von neun Monaten wurde ich von meinem Vater – selbst ein «Opfer» seiner Erziehung – während der Nacht in eine dunkle Kammer gesperrt, wo ich mir die Kehle aus dem Hals geschrien habe, bis ich schließlich verstummte. Wenn ich ungehorsam war, züchtigte er mich; auch dann und wann mal mit dem Teppichklopfer. Ich habe ihm längst vergeben und mich versöhnen dürfen. Wirkliches Heilwerden wäre sonst gar nicht möglich geworden. Meine Erfahrung, selbst Vater zu werden und mit eigenen Sinnen wahrzunehmen, wie subtil diese Mechanismen wirken, wenn unbewusste Prägungen und psychische Elterneinflüsse in der Identifikation als Vater sich Gehör verschaffen wollen, war äußerst befreiend.

Alice Miller arbeitete diesen psychodynamischen Sachverhalt meisterhaft in Werken wie «Am Anfang war Erziehung» oder «Das Drama des begabten Kindes» heraus. Dass sie selbst als Mutter in Bezug auf ihren eigenen Sohn Martin8
durch ihre eigenen Erkenntnisse nicht davor gefeit war, sich in ihren ungelösten Anteilen mit ihrem Sohn zu verstricken, zeigt, wie hartnäckig solche Wirkkräfte sich erhalten wollen.

Vater zu werden mit allen Schattierungen war für mich eine der stärksten Heilerfahrungen.

Meinen Sohn kompromisslos als Subjekt zu betrachten, ihn nicht zu «behandeln», was er mir, wenn ich mich in alten Verstrickungen verirrte, jedes Mal mit einer erstaunlichen Klarheit zu verstehen gab, wurde mir zum permanenten Spiegelbild meiner eigenen Lebendigkeit. Das Leben, als frei sich bildender Mensch, als der ich mich verstehe und in dessen Geiste ich meinem Sohn begegne, wirkte und wirkt wie ein Katalysator auf meine Heilwerdungsprozesse und die meiner Angehörigen.

In einem Raum, in dem wir uns als Subjekte begegnen, entsteht Frieden und Kohärenz in und um uns. Es ist der Raum, in dem Heilungsprozesse begünstigt werden.

Hans-Joachim Maaz9
, der weithin bekannte deutsche Psychiater und Psychoanalytiker, hat sich auf die Folgen der Frühstörungen spezialisiert und nennt folgende acht Erfahrungen, die unabdingbar sind für eine gesunde Entfaltung, welche uns befähigt, wahres Glück zu empfinden:

  • Ich bin berechtigt.
  • Ich kann frei bleiben.
  • Ich bin geliebt.
  • Ich kann autonom handeln.
  • Ich kann expandieren, also meine Hemmungen überwinden.
  • Ich kann etwas Eigenes schaffen.
  • Ich erlebe mich von anderen unterstützt.
  • Ich kann meine Begrenzungen akzeptieren.

Doch unsere Systeme sind nach wie vor durchtränkt von Machenschaften, die aufgrund eigener seelischer Verwundungen als normal eingeschätzt werden. Trotz aufkeimender Wokeness werden dadurch – und ich erachte dies als äußerst bedenklich und problematisch – normopathische Tendenzen nicht etwa durchbrochen, sondern von einer subtilen Mischung aus scheinheiliger Moral und sequenzierter Toleranz sogar befeuert. Der spaltende Gutmensch erliegt dadurch der unheimlichen Illusion einer durch schablonenhafte Rechthaberei geschönten heilen Welt. Maaz schreibt: «Die gespaltene Welt ist das Schlachtfeld des falschen Selbst.» 10

Solange wir uns unserer Verletzungen bewusst werden und die Möglichkeit haben, diese mit uns zugewandten Menschen anzuschauen, haben wir gute Aussichten, einen konstruktiven Weg zu finden, damit umzugehen. Wir können lernen, unseren energetischen Fluss kontinuierlich zu reinigen und in der Balance zu bleiben.

Bedeutend anspruchsvoller ist es, sich mit transgenerationalen Traumata, aber auch mit frühkindlichen Ereignissen auseinanderzusetzen! Sie liegen in uns verborgen, und wir tragen sie als integralen Bestandteil unserer Persönlichkeit mit uns herum. Wir wissen nicht darum, haben allenthalben Vorahnungen. Wir merken, dass gewisse Bereiche oder gewisse Schlüsselreize, Trigger, in unserem Leben belastet sind. Es fühlt sich tatsächlich wie ein unsichtbares Gewicht an; etwas, das lähmt. Widerstände und Energielosigkeit, irrationale Reaktionen wie eruptive Wutausbrüche oder aus dem Nichts kommende Lähmung oder Blockade. Die Symptome sind vielfältig und keineswegs nur laut und auffällig.

Heil zu werden bedeutet, dass wir versuchen, den Ausdruck und die Zeichen unseres Unbewussten zu verstehen, es wagen, uns den Klängen und Farben tieferer Sphären zu öffnen, selbst wenn es schmerzhaft sein sollte und wir uns unseren Wunden stellen. Dafür müssen wir wahrhaftig werden.

Seelischer Schmerz manifestiert sich stets auch körperlich. Gerade in der Verbindung mit dem Körper, unserem Leib, gelingt es uns, wesentliche Muster im Seelischen zu erkennen und Heilungsprozesse zu erwirken. Mit bildgebenden Verfahren konnte in neurobiologischen Versuchen gezeigt werden, dass seelischer und körperlicher Schmerz in denselben Regionen unseres Gehirns verarbeitet werden und sogar mit denselben Schmerzmedikamenten gelindert werden können. So verwundert es auch nicht, wenn betäubende Substanzen und Handlungen Hochkonjunktur haben. Auch den Mechanismen von Sucht haben wir uns zu stellen, wenn wir «ganz» werden wollen. Dabei sollten wir uns deutlich vor Augen führen, dass Gewalt, auch wenn diese kurzfristig erfolgreich scheinen mag, nicht zu wirklicher Gesundheit führen wird.

Das Heil liegt nicht in zivilisatorischen Systemen, die von einem Bewusstsein besserwisserischer und bevormundender Kontrollfantasien und überheblichem Machbarkeitswahn durchdrungen sind. Gesundheit kann im Grunde genommen genauso wenig verordnet werden wie Bildung. Wird sie verordnet, so verkommt sie zur Farce, zur Doktrin, schlimmer noch: zum krank machenden Fremdkörper. Dass Staatlichkeit – weit häufiger als gemeinhin gedacht – selbst vor extremen Eingriffen wie Zwangseinweisung oder körperliche Fixierung nicht zurückschreckt und damit in ihrer Fürsorge Menschen aktiv traumatisiert – was ich am eigenen Leibe erfuhr –, ist ein unmissverständliches Zeichen für eine normopathische Gesellschaft. Wir bewegen uns zurzeit mit schnellen Schritten auf eine totalitäre Gesundheitsdiktatur zu, in der uns bis in unsere intimsten Bereiche vorgeschrieben wird, wie wir uns zu verhalten haben. Bis in unseren Mikrokosmos hinein sollen wir uns staatlicher und mittlerweile auch schon überstaatlicher Kontrolle ausliefern.

Dabei sehnen wir uns nach Sicherheit und Geborgenheit und geben uns der Illusion einer Versicherung durch andere hin. Dies mag auf einer materiellen Ebene funktionieren, auf einer geistigen Ebene bedeutet dies, sich im Fundament seiner Essenz zu schwächen, wenn nicht sogar aufzugeben. Wir machen uns dadurch selbst zum Objekt, wir geben die Verantwortung ab, wir verlassen unseren Ursprung.

Das englische Wort «security» – Sicherheit –, abgeleitet aus dem lateinischen «securare», was so viel bedeutet wie «sich selbst heilen», weist aber einen gänzlich anderen Weg, den Weg in mein inneres Heiligtum, mein Königreich. Mein Körper ist der Tempel meines Geistes. Wir alle besitzen mit Beginn unserer Existenz die Fähigkeit, in unseren Körper hineinzuhorchen und uns mit dem Geistigen zu verbinden. Diese Kompetenz entspringt unserer Urnatur. Es ist genau diese Kompetenz, die sich frei sich bildende Menschen im besten Fall erhalten oder aber wieder erschaffen.

Der frei sich bildende Mensch ist der sich selbst heilende, der sich selbst heiligsprechende Mensch – ohne Attitüde von Überheblichkeit oder Ego-Befriedigung, sondern in einer Haltung von Demut für eine allumfassendere Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein, dass jedes Wesen von Geburt an über Freiheit und Selbstbestimmtheit verfügt.

Wer den Weg eines frei sich bildenden Menschen einschlägt, entscheidet sich für eine äußerst radikale Verantwortungsübernahme in seinem Leben, die unweigerlich sämtliche Lebensbereiche tangieren wird; es ist ein umfassendes Ja dazu, aus der Opferrolle auszusteigen.

Heil zu werden bedeutet auch, sich zu befähigen, Nein zu sagen – radikal und kompromisslos –, sich abgrenzen zu können und dürfen, sich seiner eigenen Rhythmen bewusst zu werden.
Es bedeutet, sich vollumfänglich ernst zu nehmen.

Wir können das Leben als Reise betrachten, auf der wir uns dem Heldenhaften und Grenzwertigen stellen, um uns dem Heilsamen zuzuwenden, wollen wir nicht dem Siechtum erliegen. Wir alle sind verwundbar, gleichzeitig aber auch mit wundersamen Selbstheilungskräften und einer erstaunlichen Fähigkeit zur Resilienz ausgestattet. Sein eigenes Glück, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen erfordert von uns, unsere Komfortzone zu verlassen und unsere eigene Trägheit zu überwinden. Das Geschenk, das sich daraus ergibt, ist ein Gefühl von Wachstum und Lebendigkeit. Jedes Hindernis, das uns unser Leben offenbart und das wir meistern, wird uns in unserer Selbstwirksamkeit bestärken. Dabei handelt es sich weniger um das Einlösen eines schnellen Heilversprechens als um ein zyklisches Auflösen von Beschwerlichem und Erstarrtem, um mehr und mehr in eine Leichtigkeit des Seins zu finden.

Dabei kommen wir in die Erfahrung des NUN, die Gegenwart der Präsenz. Sowohl im Englischen als auch im Französischen steht dasselbe Wort – «PRESENT» – für das Geschenk und das Gegenwärtige. In diesem Bewusstseinsstrom können wir loslassen, unsere Gedanken, unsere Sorgen, unsere Wunden.

Der goldene Schlüssel, ja unsere Achillessehne, sind unsere Söhne und Töchter. Wenn wir aufhören, sie als Objekte zu behandeln, und das Tor zu einer tiefen und respektvollen Beziehung öffnen – verbunden und doch klar abgetrennt –, wird Versöhnung und Heilung auf allen Ebenen geschehen. Denn: Was diese Welt dringendst braucht, sind Menschen, die sich mit sich und dem Kosmos versöhnt und verbunden fühlen. Menschen, die so in sich ruhen, dass sie es vermögen, Teufelskreise in Engelskreise zu verwandeln. Indem wir in unserem eigenen Königreich erstarken, können wir in die Liebe zu uns selbst und zu allem, was uns umgibt, finden. Es ist unsere Urpotenz, die erstrahlt, unser Pleroma, das – wieder – zu leuchten beginnt.

 

QUELLEN UND ANMERKUNGEN

Ein Ausschnitt aus diesem Beitrag erschien unter dem Titel: Das Phänomen der Normopathie. Wir brauchen uns nicht zu schämen, dass wir krank werden in gedruckter Form im  “TAU – Magazin für Barfußpolitik”, heil werden, Ausgabe 25 – 06/2024
https://tau-magazin.net/?r3d=tau-magazin-heil-werden-juni-2024

(1) Siehe hierzu beispielsweise Christian Dittrich-Opitz, Christian Salvesen: Normopathie, Kamphausen, Bielefeld 2021

(2) Siehe hierzu beispielsweise Katharina Drexler: Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung, Klett-Cotta, Stuttgart 2007

(3) Siehe hierzu beispielsweise Franziska Klingkit: Wer sein Kind liebt … Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt, tologo verlag, 2015 (vergriffen), Neuauflage in der proGenia Edition in Vorbereitung

(4) Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität, Kösel Verlag, Kempten 1987

(5) Erich Fromm: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen, Ullstein, 2005

(6) Erich Fromm im Interview: 21:53, https://www.youtube.com/watch?v=sVd4dKH3vng

(7) Katharina Rutschky (Herausgeberin): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Ullstein, 1988

(8) Martin Miller: Das wahre «Drama des begabten Kindes». Die Tragödie Alice Millers, Herder, Freiburg 2016

(9) Vortrag von Hans-Joachim Maaz: Quellen des Glücks, Worthaus

(10) Hans-Joachim Maaz: Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft, C. H. Beck, München 2017, Seite 50

 

DER KÖNIGSWEG ZUR HEILUNG2024-06-29T11:10:44+02:00
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